1. Auflage 2025
Text: Copyright ©Aina Koregard, www.ainakoregard.de
Verlag: BoD · Books on Demand GmbH,
Überseering 33, 22297 Hamburg, bod@bod.de
Druck: Libri Plureos GmbH, Friedensallee 273, 22763 Hamburg
Covergestaltung ©Aina Koregard
unter Verwendung des Kunstwerks „Monde“, www.lunartis.de
ISBN: 9783819297588
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Im Anhang befinden sich Angaben zu den einzelnen Rollen der Protagonisten je Zeitfenster, Quellenangaben aus Büchern und dem Internet sowie Fußnoten.
LESEPROBE Seite 7-57... (von 676 Seiten):
Zehntes Zeitfenster . Tausend weiße Meerschweinchen
„Burgon kommt sicher gleich. Seit der letzten Rückreise hat er das Laufen wieder angefangen. Das hilft ihm, seinen inneren Frust wegen seiner Rolle in Tenochtitlán abzubauen. Jeden Morgen. Eigentlich zu-sammen mit Ushlaran und Kyr. Aber Kyr ist schon hier und sogar geduscht“, erklärte Aleyna leicht irritiert, als alle fragend auf die freien Plätze der fehlenden Männer starrten. Kaum, dass sie im Versammlungsraum waren, hatten sofort alle ihre Plätze eingenommen.
„Sie tönten noch groß, von wegen, wer wohl zuerst hier sei. Unpünktlichkeit ist sehr ungewöhnlich für Ushlaran“, meinte Gimra auch leicht irritiert. Alle sahen Kyr an.
„Sie wollten unbedingt durch den Wald. Ich hatte keine Lust und bin an den Feldern entlanggelaufen. Ich habe nur wenig gefrühstückt. Wir könnten unseren Inka-Snack doch auch schon vorher testen. Wenigstens ein Mal naschen“, meinte Kyr mit einem Blick zu den Stehtischen. Da war aber noch nichts zu erkennen. Er stand auf, um eventuell doch etwas zu erspähen:
„Ich hoffe sehr, es gibt wieder Maispfannenkuchen. Das sind doch alles Mais-Völker, die Maya, die Azteken und die Inka. Da steht ja noch gar nichts, noch nicht einmal Zahnstocher zum Aufpicken.“ Leichte Enttäuschung.
„Oh ja, mit diesem Agavensirup. Bester Snack. Irgendwas hat sie vorbereitet, aber keiner durfte in die Küche“, meinte Rosuran und Kyr nickte zufrieden, dass doch ein Snack in Aussicht stand.
In dem Moment erschienen Burgon und Ushlaran in der Tür. Völlig verschwitzt. Burgon stöhnte:
„Entschuldigt. Wir waren so in unser Gespräch vertieft und sind einfach immer weitergelaufen. Wir hatten nicht einmal auf unsere Memonavis geschaut. Plötzlich kamen wir im Nachbarort raus. Das ist mir ja noch nie passiert. Gibt es schon was zu essen, Hanaskea? Das roch zu Hause so lecker.“
„Ich bin untröstlich. Ich weiß gar nicht, wie das geschehen konnte. Ich habe eigentlich eine eingebaute innere Uhr in meinen Genen. Entschuldigt“, entschuldigte sich Ushlaran und tupfte Kopf und Rest sportlermäßig mit einem Handtuch trocken.
Gimra lachte:
„Ihr seid unmöglich. Wir haben auf euch gewartet und sind alle schon sehr gespannt. Wollt ihr euch noch kurz frischmachen? Wir tauchen schließlich in eine weitere Hochkultur ein. Nicht, dass eure Sportlerdüfte die Räucherungen überduften. Ich habe mich so an diese Räucherungen gewöhnt. Sie bewirkten bei mir zwar nicht wirklich etwas, aber sie haben so etwas Entrückendes, Tragendes.“ Sie schnüffelte an Ushlaran.
„Rein zufällig habe ich zwei frische T-Shirts mitgenommen. Ich dachte mir sowas schon“, grinste Aleyna.
„Ich wollte dir auch Bescheid sagen wegen der T-Shirts, dann hatte ich so das Gefühl, dass du sicher vorgesorgt hast,“ lachte Elieanor.
„Dann sind wir in Sachen Geruch und Wohlbefinden ja auf der sicheren Seite. Und wir könnten gleich anfangen“, meinte Jaskula mit einem leicht drängelnden Blick. Sie mochte Zeitverschiebungen überhaupt nicht. Lehrmeister eben.
„Und du hast wirklich keinen kleinen Snack vorweg“, kam nun Tanobakt. „Tanobakt, der dritte, vierte und sechste kamen zufällig an eurem Haus vorbei und wir bekommen nun alle sieben den Duft nicht mehr aus unseren Nasen“, versuchte es Tanobakt, der Leibhaftige.
„Na guuut!“, lachte Hanaskea. „Ich hätte da eine Kleinigkeit, die ich eigentlich als Nachspeise…“
„Egal. Nachspeisen werden überbewertet. Ich helfe dir tragen“, sprang Kyr sofort auf und half tatsächlich. Alle grinsten innerlich.
Die beiden stellten Teller mit Gebäck auf die Beistelltische zwischen den Sesseln.
„Stopp! Erst muss Hanna uns erklären, was es ist“, ermahnte Kyr die langen Finger. Hanna, soso.
„Ich nenne diese Kreation Inkaschnitten. Sie sind mit Quinoa gebacken, das die Inka Muttergetreide nannten. Schon seit 6.000 Jahren zählt das Muttergetreide zu den Grundnahrungsmitteln der Inka, den heutigen Peruanern. Weitere Zutaten sind Hafer, Nüsse, Honig, Vanille, Zimt und eine Prise Muskat. Lasst es euch schmecken.“
Freudig bedienten sich alle und schwärmten.
„Die könnte ich den ganzen Tag essen. Inkaschnitten. Lecker“, schwärmte Kyr. Alle stimmten zu, nur Tanobakt meinte:
„Nun, bei etwas Salzigen, Würzigen mit ein wenig mehr Schärfe wäre ich später nicht abgeneigt.“ Er zwinkerte Hanaskea zu.
„Lasst euch überraschen. Nun kann die Reise aber endlich losgehen“, lächelte Hanaskea.
„Ich bin erstaunt, wie unglaublich motivierend leckeres Essen wirken kann. Hanaskea, du hast unser aller Nerv getroffen. Danke dir dafür. Wir müssen tatsächlich unser Angebot der Küche im HdW umstellen.
Ich hätte nichts dagegen, die Spezialisierung deiner Lehre um ein bis zwei Jahre vorzuziehen, Hanaskea. Dann kannst du dich voll und ganz in der HdW-Küche austoben und rundum motivierte Tiro mit deinen Kochkünsten verzaubern“, lachte Jaskula. Alle lachten.
„Ich hätte nichts dagegen. Könnte sofort losgehen“, meinte Hanaskea, mit Zustimmung von Rosuran, Kyr und Burgon, der ja auch Lehrmeister war. Man konnte den anderen Erwachsenen ansehen, dass sie gerade überlegten, auch wieder das Lehramt anzutreten.
„Ich meine es ernst. Mit 19 Jahren beginnt die Spezialisierung und du bist jetzt 16. Mit 18 sollte das kein Problem sein. Dein Grundlagenwissen ist breit gefächert. Dennoch fehlen noch einige Module, damit du dir mit dieser Basis auch alle anderen Richtungen von Lehrberufen offenhalten kannst. Auch wenn ich denke, dass du schon mit Freude und Gabe auf dem Weg deiner eigenen Berufung bist.
Aber nun, liebe Rückreisetruppe, wie ich euch schon angedeutet hatte, spielt unser Zeitfenster heute an einem Tag im Reich der Inka, das sie Tawantinsuyu, Land der vier Teile oder Reich der Vier Himmelsrichtungen nannten. Es ist das Jahr 1527 und Inka Kimra Wayna Qhapaq,…“, sie zwinkerte Gimra zu. „…der 11. König der Inka, ist an der Macht. Ah, seht, dort ist Alayna, ein begnadeter Goldkünstler, emsig bei der Arbeit und sein Sohn Wanasqia hilft ihm. Du siehst, Hanaskea, hier schlummern noch andere Talente. Das zehnte Zeitfenster ist hiermit geöffnet.“
Es war recht duster in der Hütte und die Arbeit beschwerlich.
„Dicker Rauch biss erbarmungslos in meinen Augen. Ich hustete, rang nach Atem. Dann wurde es schwarz um mich. Ich konnte mich an nichts mehr erinnern, bis ich wieder aufwachte, draußen, auf dem Boden, und meine Mutter tränen- und rußverschmiert über mich gebeugt neben mir saß.
‚Pachamama, der großen Mutter Erde sei Dank! Du bist am Leben!’ Sie hatte bitterlich geweint und mir unablässig das Gesicht gestreichelt. ‚Sie haben deinen Vater gefangen genommen! Wir müssen weg von hier. Wir werden umgesiedelt, in die Nähe des Inka, nach Qusqu. Der Große Inka hat es selbst so bestimmt. Der Sapay Inka, der einzige Inka, ist unser neuer Herr. Wir tun, was er sagt. Dann wird es uns bald wieder gut gehen…’“
Alayna hielt kurz inne mit seiner Erzählung, atmete tief ein und aus, den Kopf zur Seite gedreht, damit er die kleinen, vor ihm liegenden Kügelchen nicht verwehte, und hämmerte dann weiter, eines nach dem anderen mit dem kleinen Hammer zu hauchdünnen Plättchen. Sein Sohn Wanasqia nahm die fertigen kleinen Blättchen behutsam zu sich, stach in jedes ein winziges Loch und legte sie anschließend in eine hölzerne Schachtel, die mit einem dünnen Baumwolltuch ausgelegt war. Die Schachtel war fast voll.
Sein Vater sah müde aus. Seine Haare klebten an seiner nassen Stirn und das Licht der Lampe ließ den rötlichen Glanz in seinen Haaren heute nur schwach erscheinen.
„Große Statuen, ja das ist meine Arbeit, aber diese kleine fummelige Arbeit, das ist nichts mehr für meine Augen und auch nichts für meine Finger. Außerdem fehlt das Licht der Sonne. Wie soll man aus Gold etwas Vernünftiges gestalten, wenn Vater Sonne nicht am Himmel steht und sein Gold zum Glänzen bringt? Bei Tag fällt alles gleich viel leichter. Diese fummelige Arbeit… Aber ablehnen darf man dem Großen Inka nichts. Erst recht nicht, wenn sich das Land in solch einer schwieriger Lage befindet“, redete er vor sich hin.
„Du bist der beste Goldkünstler der Stadt, Yaya, Vater, und der schnellste, wenn es sein muss. Der Sapay Inka würde dich sonst nicht solch belanglose Arbeit machen lassen, wenn es nicht von herausragender Wichtigkeit wäre. Es heißt, es sei für einen neuen Umhang, den er dringend bräuchte… Für irgendein wichtiges Ritual“, rechtfertigte Wanasqia den Großen Inka.
„Einen neuen Umhang, hm… Der Große Herr bekommt jeden Tag einen neuen Umhang von den fleißigen 500 Jungfrauen des Sonnengottes Inti persönlich.“ Alayna machte auf einmal ein wichtiges Gesicht, blickte zur Tür und sprach mit leiser Stimme weiter. Wanasqia reckte seinen Kopf zu ihm, um nichts zu verpassen.
„Ein mit solchen Plättchen aus Gold bestickter Umhang ist ein ganz besonderer Umhang – der Umhang eines Toten! Und bei dieser Stückzahl handelt es sich nicht um den Umhang des Großen Inka allein, sondern eher um zwei! Ein Umhang in der Größe eines erwachsenen hockenden Mannes und ein etwas kleinerer. Dass ein Herrscher in seinem Alter schon den Totenumhang fertig wissen will, ist nicht ungewöhnlich, aber gleich zwei! Und dann diese Eile! Ich hörte, dass sein Sohn die Fleckenkrankheit haben soll, der, der seine Nachfolge antreten soll. Das sieht nicht gut aus für unser Volk! Gar nicht gut. Kir Ninan Cuyochi ist ein gescheiter Junge. Er wäre ein wertiger Nachfolger des Großen Inka.
Aber diese Krankheit… Möge der Große Inka uns noch lange erhalten bleiben und seine Erbfolge gütig klären, wenn sein zuerst auserwählter Sohn es jetzt nicht schafft, die Krankheit zu besiegen. So, wie es aussieht, muss Inka Kimra Wayna Qhapaq sich entscheiden, entweder für seinen weiteren Lieblingssohn, der allerdings von einer seiner Nebenfrauen aus Quito, weit aus dem Norden, stammt, oder den rechtmäßigen Thronfolger hier aus Qusqu. Egal wie, die beiden sind wie Kampfhähne. Es wird nicht einfach für das Volk der Inka, wenn es soweit kommen sollte. Dieses Fleckenfieber, es rafft unser Volk dahin. Ich kenne nur zwei, die es bisher überlebt haben: Unseren Nachbarn und weiter vorn die Frau des Perlenmachers. Jetzt haben sie überall Narben, aber es geht ihnen wieder gut. Es sind zu viele, die sterben, viel zu viele! Es schwächt unser Volk mehr und mehr!“
„Vater, wir haben es gleich geschafft. Die Sonne geht bald auf. Inti kommt zu uns zurück!“, redete sein Sohn ihm aufmunternd zu. Draußen vor der Tür schnarchte der wartende Bote.
„Erzähl mir von der Zeit, bevor ihr nach Qusqu umgesiedelt wurdet. Der Große Inka war so angetan vom handwerklichen Können der Chimú, deines Volkes. Deswegen hatte er die meisten verschont, obgleich sich alle sehr lange gegen ihn zur Wehr gesetzt hatten.
Ich habe gehört, dass es seine Strategie ist, die Gruppen umzusiedeln; die besonders begabten Handwerker einerseits und die Gruppen, die aufwieglerisch sind andererseits. Das ist strategisch sehr klug! Deswegen ist auch der Sapay Inka so erfolgreich.“
„Sprich nicht so laut! Auch wenn dieser Bote draußen schläft, du weißt nie, ob die Steine lauschen, naja oder die Lehmziegel.“ Alayna blickte mit großen Augen zur Wand, dann zur Tür.
„Der Große Inka würde uns nichts tun. Er ist der Intip Churin, der Sohn der Sonne, der Sohn von Inti. Unsere Türen stehen offen und jeder kann sehen, dass wir fleißig arbeiten. Zu jeder Zeit kann ein Aufseher des Inka hereinschauen. Er wird uns nie faul in der Ecke liegen sehen! So etwas Schlimmes würden wir niemals tun! Außerdem ist unsere Arbeit so gut, darauf würde er niemals verzichten wollen. Ich sage nur das, was jeder weiß.
Diese Umsiedelei ist eine sehr geschickte Idee und funktioniert, ehrlich gesagt, sehr gut. Der Inka versorgt alle mit Arbeit, Häusern, Nahrung und wenn man alles hat, was man zum Leben braucht, kommt man auch nicht mehr dazu, über Ungerechtigkeiten oder andere Bedürfnisse nachzudenken. Wenn man weit von seiner Heimat entfernt wohnt, kann man sich auch nicht mehr mit seinen Freunden austauschen. Warum sollte man auch? Es geht doch allen gut. Keiner sitzt nutzlos in der Ecke, was eigentlich fast das Schlimmste ist, das einem passieren kann. Aber da passt der Sapay Inka schon auf, dass ein jeder seine Aufgabe hat und dieser fleißig nachkommt.
Wiraqucha hätte uns nicht solch wunderbares Werkzeug wie unsere Hände gegeben, wenn wir sie nicht nutzen sollten und außerdem, das Wichtigste überhaupt, keiner braucht mehr zu hungern, auch wenn alle viel arbeiten müssen. Nichts zu essen zu haben, das wäre doch wahrhaft das Schlimmste. Selbst in Notzeiten wie vor zwei Jahren, als es einfach nicht regnen wollte und Quellen in den Bergen versiegten, die unsere Felder üblicherweise üppig versorgen, selbst dann halfen die Vorratslager über schwierige Zeiten hinweg. Es ist alles perfekt organisiert. Absolut perfekt!“
Alayna musste über die jugendlichen Gedanken seines Sohnes lachen und kam darüber in starkes Husten. Wanasqia eilte, um ihm Wasser zu holen. Trotz des Hustens schnickte sein Vater rasch mit einem kurz nach oben gerichteten Blick einen Tropfen Wasser in den Himmel, für Inti zum Dank, und trank, was ihm auch gleich Linderung verschaffte.
„Was war denn das?“, schimpfte Alayna zur Tür, als käme die Ursache von dort, und lachte auch gleich wieder. „Essen, du hast recht, das Essen haben wir die ganze Zeit über auch vergessen. Selbst du, mein Sohn, der du ohne einen guten Maisbrei oder ein schmackhaftes Kartoffelgericht gar nicht klar denken kannst, selbst du hast die ganze Nacht fleißig an meiner Seite durchgehalten. Ich bin stolz auf dich! Du darfst dich wahrlich mein Sohn nennen!“, freute sich Aleyna über Wanasqia, klopfte ihm auf die Schulter und drehte sich Richtung Feuerstelle.
Wanasqia war darüber etwas irritiert, denn sein Vater war gewöhnlich ein eher in sich gekehrter Mann. Dabei war er nie missmutig, sondern stets freundlich und immer ruhig und ausgeglichen. Normalerweise war er mit stiller Freude bei seiner Arbeit. Alles ging ihm dabei leicht von der Hand, egal wie groß der Auftrag war, den der Inka, und es waren ausschließlich Aufträge des Großen Inka, ihm übertrug. Es war fast so, als würde er mit dem Gold verschmelzen, wenn er es bearbeitete und in Form brachte. Es verband ihn eine tiefe Liebe zum Gold, zum Schweiß des Sonnengottes. Er konnte dabei alles um sich vergessen und schien um die Skulpturen zu schweben, wenn er ihnen zärtlich die Muster einprägte, die der Gott ihm zuflüsterte.
„Vater, Yaya, lass uns erst diese Plättchen zu Ende arbeiten, dann haben wir den ganzen Tag Zeit zu essen. Es ist nicht mehr viel. Der Bote wartet doch darauf“, wagte Wanasqia zu sagen und blickte zu Boden.
„Ja, mein Sohn, natürlich. Das hatte ich jetzt auch nicht so gemeint. Den Rest werden wir beide jetzt auch noch schaffen.“ Aleyna drehte sich wieder zu den kleinen goldenen Kügelchen, hustete wieder, fing sich aber gleich, hämmerte und erzählte dabei weiter:
„Von den Chimú will ich dir erzählen, von deinen Ahnen, deren erster König Tacaynamo einst mit einem Balsa-Floß übers Meer gekommen war und sein Wissen den noch unwissenden Menschen dort überbracht hatte. Er baute ChanChan, das war einst unsere große Hauptstadt. Es sollen immer noch viele Menschen dort leben, aber die Stadt hat durch Qusqu natürlich an Bedeutung verloren. Auch wir lebten dort, als sie noch glanzvoll und mächtig war, meine Eltern und ich. Meine jüngere Schwester wurde dann hier geboren. Mein Vater war Künstler und arbeitete viel, manchmal auch bis tief in die Nacht, um die Auftragszeiten einzuhalten, die er für die Herstellung des Gold- und Silberschmuckes bekam, auch für seine Skulpturen und Verzierungen für die Räume des Palastes oder die Grabbeigaben.
Ähnlich, wie wir es auch hier tun, nur, dass der zeitliche Druck nicht mehr so groß ist, denn der Inka weiß, dass wir fleißig sind und gute Arbeit leisten und dazu gehört die entsprechende Ruhe des Nachts, wie üblicherweise immer. Wir wissen ja, die Lage ist bei Weitem nicht normal, wie sie momentan ist. Wenn es darum geht, die Götter milde zu stimmen oder ihnen Ehre zu erweisen, dann tut man sowieso alles, was man kann und noch mehr. Wir alle. Das ganze Volk.“ Wanasqia räusperte sich künstlich.
„Sprich ruhig, wenn du eine Frage hast. Du weißt, wenn ich erzähle, dann verrutsche ich gern einmal im Faden, wie ungeübte Quipu-Leser“, lächelte Alayna seinen Sohn von der Seite an.
„Yaya, die Geschichte deiner Vorväter, den Chimú, klingt sehr ähnlich wie die des Volkes, das um Tùcume gelebt hatte, das dann von den Chimú erobert wurde. Das soll schon vor hundert Jahren und noch mehr gewesen sein, hat mir Großvater erzählt. Die Chimú wurden dann wiederum in das Reich des Großen Inka übernommen, mitsamt den unzähligen Pyramiden und den Opfergaben, die dort sein sollen, den Palästen, den Tempeln, den Feldern, den Menschen und Tieren.
Ich meinte die Geschichte mit dem Fremden, der übers Meer gekommen sein soll. Kann es sein, dass alles irgendwie zusammenhängt – dieses Volk, wir, die Inka, und vielleicht auch frühere Völker?
Sie tun immer alle so, als hätte es die anderen davor nie gegeben. Dabei übernimmt doch einer von dem anderen, von den eigenen Vorfahren oder von denen, die sie eroberten. Die Chimú haben von dem einstigen Volk aus der Nähe von Tùcume das Beste übernommen und die Inka haben nun das Beste von den Chimú übernommen. Uns zum Beispiel!“
Er lächelte seinen Vater aufmunternd zu, da er beobachtete, dass die letzten Kügelchen ihm sehr viel Mühe bereiteten.
„So oder ähnlich wird es wohl gewesen sein, doch so genau kann man das nicht sagen“, brummelte der Vater, was so viel bedeutete wie, ‚eigentlich wollte ich nur vom Glanz der Chimú erzählen und nicht von irgendwelchen Kulturen, von denen wir vielleicht einmal irgendein kleines Muster übernommen haben sollen. Vor denen lasse ich doch nicht unseren Glanz erblassen!’
„Ich weiß“, sagte daraufhin Wanasqia beschwichtigend. „Ich weiß, dass du nicht von irgendwelchen anderen Kulturen erzählen wolltest, sondern von den stolzen Chimú und deren größten Stadt ChanChan aus luftgetrockneten Lehmziegeln, die größte, die man je gesehen hat.“
Alayna lächelte wieder. Er war nie lange missmutig. Wenn überhaupt, wie gesagt, sehr selten und von der Dauer eines Atemzugs. Das war jetzt nur, da er wohl sehr müde und am Ende seiner Kräfte war.
„Ja, Recht hast du, mein Sohn. So will ich der Ordnung halber bei den Lambayeque beginnen. Die Lambayeque, so nennen sie manche, weil sie einst dieses ganze Flusstal besiedelt hatten – sie hätten dort weit über 200 Pyramiden gebaut, wo sie dann auch Tùcume errichtet hatten. Mitten in der Stadt lag die größte Tempelpyramide, umbaut von 26 Pyramiden. Sie war selbst von der unvorstellbaren Größe eines großen erhabenen Berges. Dort, fast den Göttern gleich, erhaben über ein weites Land und das Meer waren ihre Rituale von besonderer Kraft. Von weither soll diese Pyramide zu sehen gewesen sein, in ihrem vollen Glanz. Welch eine Macht!“
Er machte eine kurze Pause, um zu trinken.
„Bei diesen Mengen an Pyramiden haben sie unvorstellbare Mengen von Lehmziegeln trocknen müssen“, überlegte Wanasqia staunend.
„Ja, nicht nur trockenen, auch verbauen müssen. Gleich nach der Maisernte wurden die Pyramiden weitergebaut. Da kamen die Bauern von ihren Feldern und mussten helfen. Sie taten nichts anderes als Lehmziegel anzufertigen. Wahrscheinlich haben sie wegen wiederholter Überschwemmungen ihre ursprüngliche Stadt verlassen, mit Feuer gereinigt und begraben, und haben dann diesen neuen Ort zur Besiedelung auserkoren. Daher bauten sie die nächste Stadt weiter vom Meer entfernt, mit noch mächtigeren Pyramiden und Tempeln für die Götter.
Jedenfalls sollen die Lambayeque sehr begnadete Goldkünstler gewesen sein. Schon vor langer Zeit sollen sie aus ebenso dünnen Goldblechen, wie wir sie jetzt hämmern, wunderschöne Masken und Schmuckstücke gearbeitet haben. Die Becher hatten schon die Form wie die heutigen Kerus des Großen Inka. Du weißt, das sind diese Becher mit der besonderen Form, die der Sapay Inka nun einheitlich für alle anfertigen lässt, unten schmaler, oben breiter, sehr handlich. Auch die Muster wählt er aus, die dann in Serie aufgemalt werden.
Nun, göttliche Gefäße und Statuen aus Gold und Silber, verziert mit Edelsteinen und wertvollen Muschelmosaiken sollen die Lambayeque geschaffen haben. Überall ist der Große Herr, der sie alles einst gelehrt hatte, abgebildet, mit ungewöhnlichen Augen, wie kleine Schlitze.
Ich muss fast neidlos zugeben, ich habe tatsächlich einige Ideen von ihnen übernommen oder mich von ihnen inspirieren lassen und arbeite sie in die Aufträge für den Sapay Inka mit ein. Gerade das schätzt er sehr.
Ich habe wunderschön gearbeitete Tumis gesehen, in Gold mit Edelsteinen besetzt, auf denen meist er abgebildet war, der Große Herr…“
Er machte eine kurze Pause, denn er wartete auf eine Frage von der Seite, die natürlich prompt kam:
„Yaya, ein Tumi, was ist das?“ Zufrieden lächelte Alayna und erklärte weiter:
„Ein Tumi ist ein halbrundes Messer, dessen Mittelgriff meist mit einem Gott oder einer starken Persönlichkeit verziert wurde, zum Beispiel mit diesem Großen Herrn, diesem Wissensbringer der Lambayeque, um dem Messer dessen Kraft zu verleihen. Es dient als Opfermesser, als Ritualmesser, aber auch zum Operieren, beispielsweise am Kopf. Das ist eine Technik, in der die Inka-Heiler auch sehr geschickt sind. In Kupfer habe ich auch schon Tumis gesehen.
Dort, so sagt man, sollen sie ihre Toten, ich meine natürlich die hohen Herren, auf sehr eigenartige Weise begraben haben: sehr tief in einer Erdgrube, mit angewinkelten Beinen. Die Hockstellung kennen wir, aber mit dem Kopf nach unten und das Gesicht wieder nach oben gedreht. Das Gesicht hätten sie dann mit einer Maske geschmückt. Und rate einmal, wie manche Umhänge gearbeitet waren?“
„So, wie diese hier werden sollen? Ich kann es kaum glauben!“, sagte Wanasqia mit roten Wangen, was bei ihm besonders auffiel, da seine Haut gegenüber den anderen sehr hell, fast weiß und sehr zart war. Auch seine schwarzen Haare waren feiner und glatter als die der anderen. Er trug schulterlange Haare wie die meisten ihres Standes und hatte sie zu einem Zopf gebunden. Die Bauern trugen ihre Haare meist noch länger, denn sie alle sollten sich doch klar von den Adeligen und besonders von der direkten Familie des Inka unterscheiden. Die Haare in der Kürze einer Fingerbreite zu tragen, das war nur den Adeligen vorbehalten. Dies, weil eben der große erste Vorfahre der Inka seine Haare kurz getragen haben soll. Obgleich sich die Haarvorschriften immer mal wieder ändern konnten.
Ebenso durfte nur der Inka selbst und die Adeligen, welche alle irgendwie familiär verbunden waren, goldene Scheiben in den Ohrläppchen tragen. In den Stand des Inka-Adels konnte man auch durch herausragende Leistungen erhoben werden. Bestimmte äußere Zeichen mussten allerdings zu erkennen geben, dass doch kleine Unterschiede zu den familiären Verbindungen zum Inka bestanden.
„Ja, so hat mein Vater es mir erzählt. Für einen einzigen derartigen Umhang hatte er einmal, wie wir jetzt und die Lambayeque damals, Goldplättchen gehämmert und ich meine, auch viele Silberplättchen waren dabei. Natürlich wurden deren Herren auch nach uns vertrauter Weise reich bestattet. Es soll jedoch noch üppiger gewesen sein, Perlenketten über Perlenketten und alle möglichen anderen Schmuckstücke, Gold, Silber, Kupfer, Bronze in unvorstellbaren Mengen und natürlich auch ein bis zwei Frauen und auch Kinder, die sie begleiteten. Danach hätten sie Pyramiden darüber errichtet und jedes Jahr seien die Bewohner gekommen, um dort mit ihren Ahnen zu feiern. Es traf sie allerdings schlecht, da Überschwemmungen und heftige Stürme das Volk immer wieder zum Umziehen gezwungen hatten. Das kenne ich auch von den Erzählungen der Chimú.
Natürlich verbrannten sie dann wieder ihre Tempel, rituell, denn die Götter schienen diesen Ort nicht zu wollen. Auch das kenne ich. Oder die Tempel wurden eingegraben und verlassen. Der Zorn der Götter ist manches Mal einfach unerklärlich, wie auch jetzt wieder. Auch damals sollen schon viele Vorfahren durch ihren Zorn vertrieben oder gar vernichtet worden sein. Ihr Zorn vernichtet all ihr Gut, spült es aber manches Mal auch wieder frei, sodass man plötzlich vor Mauern steht, die vor dem Sturm noch ein Berg oder Hügel zu sein schienen. Dadurch fanden viele von uns einiges, was Vorfahren gebaut und bearbeitet hatten. Die Gräber blieben natürlich unberührt. Wenn sie freigelegt wurden, wurden sie von uns wieder verschlossen. Aber raubende Halunken gab es immer. Der Zorn der Götter oder zumindest der Toten wird sie ganz sicher plötzlich treffen.
Die Chimú hatten zudem noch ganz andersartige Keramiken gefunden. Ich finde es erstaunlich, dass augenscheinlich sehr alte Kulturen all dieses Wissen hatten, Menschen, die vor König Tacaynamo und Naymlab gelebt hatten, vor Manqu Qhapaq[3] und Mama Uqllu, den Urahnen der Inka, und wunderschöne Arbeiten gefertigt hatten. Sie hatten ganz offensichtlich mehr Wissen gehabt, als man es glauben mag und als es dem Volk allgemein durch die alten Geschichten vermittelt wird. Um diese feinen Keramiken zu arbeiten, mussten sie große Kenntnis darüber besessen und dementsprechend auch in einer weit entwickelten Gemeinschaft und Gesellschaft gelebt haben.“
Wanasqia räusperte sich wieder.
„Ja, du hast recht, Yaya. Denn auch die Herkunftsgeschichte der Inka lautet so, dass über Wiraqucha, den Uralten Schöpfergott, der alles erschaffen hat, die Erde, Sonne, Mond, die Sterne, die Wolken, den Regenbogen, den Vorfahren der Inka indirekt das Wissen gebracht wurde. Also existierten auch unter ihnen bereits kluge Menschen, von deren Wissen wir heute noch lernen.
Da Wiraqucha unsichtbar ist, wirkte und wirkt er durch die anderen Götter. Inti, der Sonnengott, erkannte, dass die Menschen, die aus Stein geformt waren, noch nicht sehr viel wussten, und schickte daraufhin seine beiden Kinder Manqu Qhapaq und Mama Uqllu zur Erde, damit sie den Menschen das Wissen beibrachten. Manqu Qhapaq lehrte sie den Anbau von Pflanzen und das Züchten von Tieren und Mama Uqllu zeigte den Frauen die Kunst des Webens und des Haushaltens. Vater Sonne Inti trug den beiden auf, dass sie den Menschen Gesetz und Ordnung geben sollten, durch die sie in einer friedlichen Gemeinschaft und Miteinander leben könnten. Nicht durch Unterdrückung, sondern durch Freundlichkeit und Toleranz sollten sie regiert werden. Auch sie sollten stets daran arbeiten, durch Erkenntnisse ihr Wissen zu bereichern, um zu erleuchteten Wesen zu werden.“
„Eine wichtige Sache fehlt in der Geschichte noch“, gab Alayna seinem Sohn weiter zu denken.
„Manqu Qhapaq und Mama Uqllu erhielten von Vater Sonne Inti einen goldenen Stab. Er brachte die beiden auf der Sonneninsel im Titicacasee zur Erde hinab. Von dort aus sollten sie sich auf eine Reise begeben, um ein Land zu suchen, wo sie diesen Stab mühelos in die Erde stecken konnten. Sie zogen also gen Norden und fanden diesen Ort, an dem sie Qusqu gründeten, den Nabel der Welt!
Den einfachen Menschen, die zuvor schon hier gelebt haben, lehrten sie das, was ihr großer Vater ihnen aufgetragen hatte. An dieser Stelle steht jetzt der wunderschöne goldene Sonnentempel des Inti.“
„Ganz genau. Je weiter man in die Welt hinauskommt, desto mehr entdeckt man und desto mehr sieht man die wahren Zusammenhänge. So ist es manchmal nicht verwunderlich, wenn manche Stämme darauf beharren, dass ihre eigene Geschichte die wahre Geschichte ist und sie sich niemandem unterordnen wollen, auch wenn es ihnen dadurch vielleicht besser erginge, wie jetzt uns. Vielen geht es jetzt besser, viel besser. Man lebt in einem geregelten Leben, wo für alles zentral gesorgt wird. Man selbst geht eben der Arbeit nach, zu der man am fähigsten ist, und hilft bei anderen Arbeiten, wenn es dort dringlicher ist. Der einfache Mann hat nun einmal von Natur aus nicht den großen Überblick. Er arbeitet von Tag zu Tag.
Es gibt eben manche, die wollen eher die absolute Freiheit und das Risiko in Kauf nehmen, dass sie eben in Notzeiten nicht versorgt werden, und dass sie allein sind, wenn die Götter der Natur uns Streiche spielen.
Der Große Inka hat den großen Überblick und die weite Voraussicht und schafft es, so viele Menschen an einem Guten Leben teilhaben zu lassen. Er bewältigt eine sehr hohe organisatorische Aufgabe. Eine wahrhaft gute Leistung! Die strengen Gesetze müssen bisweilen sein, da sonst kein reibungsloser Ablauf stattfinden kann. Wenn einer etwas vom Gemeingut stiehlt und er dabei erwischt wird, dann kennt der Große Inka keine Gnade. Auch nicht für die ganze Familie des Unglückseligen. Wer einmal gesehen hat, wie dadurch eine ganze Familie ausgelöscht wurde, bleibt auf der rechtschaffenen Seite, denn wozu stehlen, wenn man satt ist, warm gekleidet und ein schützendes Haus hat?
Wenn er andere Völker erobert, dann versucht er immer, die Menschen am Leben zu erhalten. Jeder Mensch ist wichtig, denn er ist eine gute Arbeitskraft. Tote können zur gemeinschaftlichen Arbeit eben nichts beitragen. Deswegen sind wir am Leben geblieben. Auch wenn ich unser ChanChan schon gern einmal wiedersehen möchte, möchte ich dieses hier auf keinen Fall mehr missen und tauschen.
Bei welchem Thema waren wir noch – ja, bei den ungewöhnlich gut gearbeiteten Keramiken…“ Alayna rieb sich die Augen, nahm seinen Becher, schnippte wie immer einen Tropfen mit kurzem Blick nach oben vor sich in die Luft und trank. Ihm war heiß. Er war müde.
„Yaya, hast du solch ein Gefäß schon einmal selbst gesehen?“, wollte Wanasqia wissen und holte ihn aus seiner Müdigkeit heraus.
„Ja, mein Sohn, das habe ich. Aber ich habe kaum verstanden, was auf den sehr runden, bauchigen Gefäßen gemalt war. Oftmals waren es eine Art Pumas mit sehr angsteinflößenden Gesichtern. Sehr ausdrucksstark.“
„Es waren wohl Dämonen, die auch Angst einflößen sollten, damit sie nicht gestohlen werden.“
Alayna lächelte wieder über die Gedanken seines Sohnes.
„Ja, das ist gut möglich. Es ist auch schwierig, diese Bildsprache zu verstehen, da man nicht einmal weiß, wo der Anfang des Bildes ist. Wenn man sie genau betrachtet, erkennt man, dass es meistens mit Göttern zu tun haben muss, auch Priestern, Opferungen, Opfergaben, Eroberungen mit Gefangenen, fliegenden Schamanen, Mischwesen aus Tier und Mensch, die wohl Schamanen oder Priester sind, die in die Welt der Geister reisen, Tiere, Pflanzen. Wir wissen, dass jedes gemalte Teil eine Bedeutung hat, so, wie auch wir Bedeutungen für unsere einzelnen Bilder und Muster haben. Nur ist es schwierig, das Kunstwerk zu verstehen, wenn man die Bedeutung der einzelnen Elemente nicht kennt. Da kann es schnell zu Fehldeutungen kommen.
Schön sind sie, interessant in der Art der Farbzeichnungen und der Formsprache.
Nicht weit entfernt von Túcume soll der Tempel des Naymlab stehen. Du meinst mit deinen Andeutungen vorhin sicher die Geschichte von Naymlab, dem hohen Herrn, die der unseren, ich meine der Geschichte der Chimú gleicht, mein Sohn?“ Sie nickten sich zu.
„Kennst du die Geschichte des Naymlab? Magst du sie mir erzählen, Yaya?“ Wanasqia ließ nicht locker. Er merkte, dass sein Vater jetzt offener geworden war und freute sich darüber. Es kam selten vor, dass er so redselig war.
„So soll Naymlab, ein großer Herr mit seiner Frau und vielen Neben-frauen, alle prächtig gekleidet in großen bunt schillernden Federumhängen, mit einem großen Gefolge auf Booten aus Schilf von Norden über das Meer gekommen sein. Der Moment, an dem Naymlab an Land gegangen war, musste sehr erhaben gewesen sein, denn Muschelhörner sollten weit über das Land zu hören gewesen sein und Muschelstaub der Meeresmuscheln waren auf den Weg gestreut worden, den er betreten hatte, denn er war der Wegbereiter.
Diesen Ritus hatten sie bei all seinen Auftritten beibehalten. Nicht weit von dieser Stelle entfernt hatte einer seiner Nachfahren alsbald einen Tempel bauen lassen, den Palast Chot, den Heiligtum-Palast. Sie hatten eine große Statue aus grünem Stein darin errichtet, und zwar ihrem König Nymlab zu Ehren. Ein großes starkes Wak’a. Dieser Tempel, ich habe ihn nie gesehen, doch er steht noch immer dort. Ich weiß es, weil die Chimú ihr Reich bis dort und weiter bis in die Nähe von Túcume nach Norden hin erweitert hatten und eben diesen Tempel nutzten, so, wie es jetzt die Inka tun.
Naymlab hatte die Menschen, die zuvor sehr einfach gelebt haben, gelehrt, wie sie den Boden ertragreich nutzen konnten, indem er sie hat Bewässerungsanlagen bauen lassen. Es sollte nicht lange gedauert haben, bis das Land fruchtbar wurde und es allen sehr gut ergangen war. Dazu hatte er ihnen gezeigt, wie sie Gold und Silber bearbeiten konnten, hatte ihnen die Zubereitung der schönsten Farben gelehrt, um Gesicht und Masken zu bemalen. Er wies ihnen, wie sie Gefäße aus Ton herstellen konnten. Überall hatte man seine Abbildungen sehen können, selbst auf den Tumi, den Ritualmessern für Opferungen und Operationen, wie ich dir schon sagte. Sie hatten eine prächtige Kunst erschaffen, von der auch wir gelernt haben und über uns dann wiederum die Inka. Denn nun sind wir hier, viele begabte Chimú, und dürfen jetzt mit unserem Wissen und Können für den Großen Inka arbeiten.
Der Inka hat so manche Stätte untersuchen lassen. Vor allem Keramiken hat er mitgenommen und seltsam beschriftete Bohnen, die niemand von uns zuvor gesehen hatte und die sehr alt sein sollen, älter als die Chimú, und vielleicht sogar älter als die Lambayeque, so heißt es.
Ja, auch in ChanChan lebte einst eine andere Kultur, lange bevor wir dort wohnten, lange bevor die großen Palast- und Tempelanlagen gebaut waren. Dessen bin ich mir sicher. Darüber schwiegen alle offiziell, nur hinter den Hausmauern wurde manchmal getuschelt, wenn jemand etwas gefunden hat oder Geister erschienen sein sollen.
Du bist mein Sohn und ich kann dir nicht zürnen. Doch eines muss ich dir sagen: Sei bei solchen Themen vorsichtig, wenn du dich mit anderen unterhältst. Ein Volk mag es nicht, wenn es hört, dass es nicht die eigenen Leistungen sind, die ihr Wissen ausmachen, sondern auf den Leistungen anderer Kulturen aufbauen oder sie gar ganz übernommen haben und sie nicht selbst die großen Erfinder waren. Sie mögen es gar nicht, wenn ihre Geschichte in Zweifel gestellt wird. Die Ursprungsgeschichten rechtfertigen meist das System, mit dem die Könige herrschen.
Jeder König schmückt sich gern mit eigenen großen Werken, Künsten, Bauwerken, Riten, Entdeckungen, Erfolgen, Land, Menschen, Wissen und deutet es als Wohlwollen des Gottes oder der Götter, das nur ihm und seinem Volk vergönnt wäre. Jeder König ist bemüht, größeres Ansehen als sein Vorgänger zu erlangen.
Doch es ist nun mal so, dass auch ein Großer Inka niemals in so kurzer Zeit solch ein großes blühendes Reich hätte führen können, wenn die vergangenen Kulturen ihm nicht mit viel Wissen und Vorarbeit den Weg geebnet hätten, beziehungsweise, wenn er und seine Vorväter sich von anderen nicht so viel angeeignet hätten. Das Kluge an einem Herrscher erkennt man daran, was er aus dem vorhandenen Wissen macht, wie er es in seine eigene Ordnung einbezieht. Die wahre Herkunft, mag sie in Wahrheit von der einen aus der anderen entstanden sein, durch Zornesausbrüche der Götter, durch Vertreibungen, lange Wanderungen auf der Suche nach einem neuen Ort zum Leben, kann man vielerorts gar nicht mehr genau herleiten.
Große Völker haben alle ihre höhere Herkunft, die ihre Größe und Macht unterstreicht und rechtfertigt. Das brauchen sie, denn dann ist auch das Volk zu großartigen Leistungen fähig. Solange es Tawantinsuysu, dem Reich der Vier Himmelsrichtungen, dem Reich der Inka, gut geht, bleiben die Riten um Herkunft und Götter beibehalten und zeigen allen, dass dieser Weg der richtige ist. Geht es dem Volk schlecht, dann haben diese Riten versagt, die Herrschenden versagt und die Götter sich abgewendet. Was bleibt, ist, dass sich das Volk eine neue Bleibe samt Göttern, Riten und Herrschenden suchen muss. Unser Land ist reich an göttlichen Wesen. Darum werden wir an keinem Ort wirklich verlassen sein, das glaube ich. Die Götter sind doch überall, es ist allein der Mensch, der sich von der Ordnung der Götter abwendet, durch was auch immer, auch wenn es nur aus Versehen oder Unwissenheit geschieht.
Unser Großer Sapay Inka hat seine Herkunftsgeschichte von dem großen Gott der Sonne Inti und er ist größer und mächtiger als jeder König zuvor. Er steht über allen. Solange es allen gut geht, zweifelt keiner nur im Geringsten daran. Jetzt aber…“
Alayna wurde wieder ganz leise.
„…Jetzt aber, wo das Volk an dieser furchtbaren Krankheit stirbt, jetzt kommen auch hier bei manchen Zweifel auf. Trotzdem hoffe ich, dass die Götter helfen werden. Sie blasen die Muscheln jeden Tag laut die Berge hinauf, um die Apu, die Berggötter, auf unser Leid aufmerksam zu machen und um Unterstützung zu bitten. Der Große Sapay Inka, er liebt Tawantinsuyu, sein Reich, er wird es nicht im Stich lassen. Und du, mein Sohn, wirst über solche Dinge, von wem die Inka was übernommen haben könnten und Ähnliches, mit niemandem reden, keinen Zweifel äußern, keinen Unmut säen! Die Inka haben ihre Geschichte über ihre göttliche Herkunft. Dabei soll es bleiben. Ich denke, du verstehst mich.“
Er blickte seinen Sohn streng, aber freundlich direkt in die Augen. Wanasqia erwiderte den Blick in die grünlichen Augen seines Vaters und nickte ebenso ernst.
„Glaube daran, dass unser Sapay Inka wahrhaft sapay ist, der einzig wahre Inka und ein echter Inka, der Strahlende, der die Lebensenergie von allem aufnehmen kann und an die verteilen kann, die sie benötigen. Er hat die höchste Stufe eines Priesters erreicht, das ist der Sapay Inka. Er leuchtet in einem heiligen Licht, das er von seinem Vater Sonne Inti erhalten hat. Er ist ein perfekter Führer in allen Bereichen von Kult, Reich und Menschen. Es gibt noch eine letzte Stufe, die 7. Stufe. Dann könnte er seinen toten Körper wieder auferstehen lassen. Das können wir also jetzt noch nicht wissen. Wir werden sehen. Aber wie gesagt, keine Zweifel!
Außerdem können wir tatsächlich nicht von der Hand streichen, dass unser Sapay Inka selbst ein ungeheuer großes organisatorisches Geschick besitzt, das ihm wohl im Blut liegt und das ‑ dann auch mit Recht ‑ durch die eigene Blutlinie bewahrt werden soll.“ Alayna trank einen Schluck Wasser aus dem ausgehöhlten Kürbisbecher.
„Yaya, wie meinst du das mit der eigenen Blutlinie?“, fragte ihn sein Sohn, froh über die kurze Trinkpause, da es eigentlich unhöflich war, seinen Vater ständig beim Erzählen zu unterbrechen. Eigentlich könnte er nach jedem Gedanken eine Frage stellen.
„Damit meine ich, dass ein Inka seine direkte Schwester zur Ehefrau nehmen muss. Das ist unsereins unter hoher Strafe verboten. Weder die Heirat unter Geschwistern noch ein Mann mit mehreren Frauen ist erlaubt. Das ist streng geregelt. Bei den Adeligen gibt es Ausnahmen, einige haben das Recht und die Pflicht, sich mehrere Frauen zu nehmen. Unser Inka, Inka Kimra Wayna Qhapaq, nur er allein darf seine eigene direkte Schwester zur Frau nehmen. Er muss sie sogar als erste Frau des Reiches heiraten und sich zusätzlich viele Nebenfrauen nehmen. Sein Großvater, Inka Pachakutiq Yupanki, der sich Pachakuti, die Zeitenwende, genannt hat, weil er für viele Änderungen gesorgt hat. Er hat Qusqu umgebaut, die gemeinsame Sprache Qhichwa festgelegt, hat unter anderem auch diesen Brauch eingeführt, dass alle kommenden Inka ihre Vollschwestern heiraten sollen, um Nachfahren zu zeugen, die reinen Inka-Blutes sind.
Damit ist gewährleistet, dass das Blut der Sonne auch weiterhin durch alle Generationen fließt und es nicht verweichlicht. Sie entsprechen also voll dem Bild ihrer ersten Inka-Eltern Manqu Qhapaq und Mama Uqllu, die als Tochter und Sohn des Sonnengottes, als Bruder und Schwester zu Mann und Frau wurden. Somit ist sichergestellt, dass der große Gott der Sonne, Vater Sonne Inti, durch das Inka-Paar dem ganzen Volk der Inka stets wohlgesinnt ist.“
Alayna sah seinen Sohn an, um zu sehen, ob er ihm folgen konnte. Dieser nickte zufrieden:
„Ja, nun verstehe ich die Verbindung des Inka zur Sonne deutlich besser. Es ist nur verständlich, dass die direkte Abstammung von Vater Sonne gewahrt werden muss, und zwar durch diese strenge Erbfolge. Die Erfolge des Inka-Geschlechts beweisen, dass sie richtig daran tun. Sie sind ihrem Volk gegenüber zwar sehr streng, aber auch gerecht. Sie nehmen und geben dafür. Wir geben und bekommen dafür. Was will man mehr als Arbeit, ein Haus und zu essen, wie du schon sagst. Gold und Schmuck ist für den Inka und seine Familie, denn durch das Gold zeigt sich Vater Sonne hier auf der Erde. Da ist es nur recht, dass sein Sohn, der Sapay Inka, und alle Blutsverwandten sich mit Gold umgeben, vor allem aber seine Tempel. Der Große Inka behält es nicht für sich, er gibt es Inti, Vater Sonne. Er opfert es ihm, um ihm zu gefallen.“
„Mein Sohn, auch für mich ist es jedes Mal etwas Erhabenes, mit diesem Material zu arbeiten. Es verbindet tatsächlich mit der Kraft der Sonne, so, wie das Silber mit der Kraft des Mondes verbindet. Wir haben eine wundervolle Arbeit, die wir tun. Kannst du dies jetzt mehr verstehen? Auch wir haben dadurch eine enge Beziehung zu den Göttern, auch wenn wir keine Riten durchführen.
Für mich selbst ist das Schaffen eines Kunstwerks und das Arbeiten mit diesen edlen Metallen und edlen Steinen eine Art kultische Handlung, und wenn es manchmal nur das monotone Austreiben dieser kleinen Goldkügelchen zu Plättchen ist.
Die Priester und der höchste Priester, der Inka selbst, sie führen aus. Aber wir, wir erschaffen! Wir dienen den Göttern, wenn wir unsere Arbeit voller Aufrichtigkeit tun. Wir dürfen den Stoffen der Götter ihren Ausdruck verleihen, horchen, was sie uns flüstern und arbeiten es in das Kunstwerk ein. Das ist etwas ganz Besonderes, merke dir das und sei stets dankbar dafür!
Die Bauern oder die Straßenarbeiter, die Arbeiter in den Minen oder die Tempel-, Pyramiden- und Häuserbauer haben eine wesentlich schwerere Arbeit zu leisten. Auch ihnen sei Dank, denn durch sie sind die Vorratsspeicher des großen Reiches Tawantinsuyu voll und jeder Ort ist gut zu erreichen.
Nun bin ich wieder in ein anderes Band des Quipu gerutscht. Ich kann die Zeichen der Knotenschnüre nicht lesen und bewundere die Quipubewahrer, die aus diesen vielen Knoten, Knotenarten, Verbindungen, Schnüren in allen Längen und Farben, etwas entziffern können. Ein Quipu steckt für mich voller Geheimnisse. Ich kenne nur unsere Zeichen, die wir in unsere Kunst mit hineinarbeiten, damit die Götter die Botschaft des Inka an sie verstehen.
Ich liebe dieses Material, dieses Gold, wie es sich anfasst, diese Farbe, dieser Glanz! Es ist voller Liebe und Schönheit!
Nun, auch das Silber hat seine besondere Ausstrahlung und das Kupfer zudem noch besonders heilende Kräfte. Dennoch verbindet mich selbst mehr mit dem Gold, denn ich höre Inti, den Gott der Sonne, dadurch zu mir sprechen.
Dem Künstler bleibt bei allen Vorschriften, was, wo und wofür er stehen soll, doch noch eine gewisse Freiheit.
Inti wird bald den Himmel erhellen, dann wird auch meine Kraft zurückkehren. Nur noch diese Handvoll Plättchen, dann kehrt Ruhe ein.“
Er trank wieder einen Schluck und unterdrückte damit einen Hustenreiz.
„Ich wollte dir schon lange von deinen Vorfahren aus meiner Linie erzählen. Deine Mutter, das weißt du, wurde hier in Qusqu geboren. Sie wurde mir zur Frau gegeben, denn ein Ziel des Inka ist, die Menschen durch Heirat zu verbinden, damit Frieden ist im Land. Es ist zudem gut, dass viele mittlerweile eine ähnliche Sprache sprechen. Das Qhichwa[4] hatte, wie ich eben schon sagte, der Inka Pachakutiq Yupanki, der große Weltenveränderer, einst selbst übernommen, da diese Sprache hier in Qusqu als dem Nabel der Welt gesprochen wurde und viele andernorts ähnlich sprachen. Tawantinsuyu ist so groß, welch großer Aufwand wäre es, wenn man zu jeder Stadt einen neuen Übersetzer bei sich bräuchte. Die Zeichen der Quipus konnten nur schwer entziffert werden. Seit nun alle Qhichwa sprechen, können sich die meisten einigermaßen untereinander verständigen. Es kommt nicht mehr zu so vielen Missverständnissen wie zuvor.
Nun, und ich komme also aus ChanChan.
Qusqu ist eine wunderschöne und prächtige Stadt, ein immerwährendes Fest für die Augen des Sonnengottes, darin besteht nicht der geringste Zweifel. Aber ChanChan war unübertroffen die größte Stadt, die ich je gesehen habe, auch wenn ich noch ein Junge war, als wir von dort wegmussten.
Sie war der reinste Irrgarten, so verschachtelt waren die Straßen und Häuser im Innern des Palastbezirkes angelegt. Ein Fremder musste sich einfach darin verlaufen, wenn er keinen Führer an seiner Seite hatte. Genauso war es auch gedacht. Dieser Plan schützte vor unwillkommenen Besuchern.
Ganz anders als zum Beispiel Tucúme, das man von weit her sehen konnte und auch sollte, waren ChanChan und seine Heiligtümer geplant. Es war nicht groß an Höhe, sondern an Fläche! Niemand konnte von außen die Heiligtümer sehen. Nur die wenigsten hatten Zugang ins Innere des Palastes und der Tempelanlage. Hohe Mauern versperrten von außen die Sicht. Hinter der hohen Mauer war zunächst der große Eingangsbereich, wo Gesandte anderer Städte erwartet wurden. Dahinter…“ Alayna sah kurz zu seinem Sohn, der wieder einmal künstlich hüstelte. „Ja, du möchtest etwas fragen?“
„Yaya, woher kannst du so genau sagen, wie es hinter der hohen Mauer ausgesehen hat, wo man doch von außen gar nicht darüber schauen konnte und durfte, so, wie du selbst gesagt hast?“, fragte Wanasqia erleichtert darüber, dass er seine Frage loswerden konnte.
„Das kann ich dir deshalb erzählen, weil ich selbst schon dort gewesen bin. Nicht oft, aber jedes Mal, wenn ich einen Auftrag fertig hatte, dann brachte ich, manches Mal auch mit Trägern, die dann aber auf dem ersten Platz gleich hinter dem Tor von palasteigenen Trägern abgewechselt wurden, das Kunstwerk nach drinnen. Einmal sogar hatte unser König selbst sofort einen Blick darauf werfen wollen. Ich hatte die große und seltene Ehre, ihm meine Gedanken dazu zu erklären.“ Alayna sah mit einem sehr wichtigen Gesichtsausdruck zu seinem Sohn. Er freute sich über dessen staunende Augen und respektvolles Nicken.
„Auch Riten und Festivitäten fanden bisweilen auf diesem großen Platz statt. Allein durfte ich dort natürlich nie hineingehen. Und darüber war ich auch froh, denn ich hätte mich wohl immer verlaufen. Selbst nach dem hundertsten Male.
Du kannst dir nicht vorstellen, wie verwirrend diese Straßen verliefen. Manchmal endeten sie einfach vor einer Mauer oder sie wurden so eng, dass keine zwei Personen aneinander vorbeigehen konnten. Da wusste man, dass man den falschen Weg genommen hatte.
Manchmal musste ich aber auch solch einen schmalen Gang gehen. Die Träger verschwanden dann im Haus daneben und tauchten auf der anderen Seite wieder auf. Dann wiederum öffneten sich die Straßen zu schönen Höfen mit Brunnen und blühenden Gärten mit Bäumen. Wir gingen vorbei an Vorratslagern, Küchen und vielen Räumen, dann wieder nur Mauern bis zu den nächsten lebendigen Innenhöfen.
Lange ging man und zum Schluss wusste man nicht, ob man nicht das eine oder andere schon einmal gesehen hatte. Dennoch war es nicht beengend, denn alle Mauern waren fein gearbeitet, besonders in Form gebracht, mit Lochmustern und Reliefs, mit Malereien von allerlei Tieren aus dem Meer, Pflanzen und Vögeln. Dies war die Palastanlage des lebenden Königs, der, wie seine Vorgänger in den ihrigen, auch in dieser Anlage seinem Stand entsprechend würdevoll und reich an Beigaben und Begleitungen ausgestattet, bestattet wurde. Der nächste König musste sich stets von Grund auf einen neuen Palastbereich bauen. Der verstorbene König behielt all seinen Besitz und wurde auch weiter geehrt. Die Verwaltungsbauten wurden natürlich weiter benutzt.
Ein neuer König musste seinen Anspruch auf den Thron natürlich erst einmal unter Beweis stellen. Er musste Riten und Opferungen abhalten, musste seinen Palast samt Tempel bauen, zudem brauchte er Land und Kunstgegenstände. So war sein Geschick gefragt und seine Verbindung zu den Göttern. Dieses Prinzip ist hier bei den Inka sehr ähnlich.
Vielleicht hatten sie es ja von uns übernommen, nur dass der Kult um die toten Inka noch wesentlich stärker ist, denn ihre Kraft wird immer noch mit in bestimmte Handlungen, bei Festen, festlichen Umzügen oder Kämpfen mit einbezogen. Hast du die Inka-Ahnen schon einmal gesehen?“
„Ja, beim großen Inti Raymi, beim Sonnenwendfest, das wir alle feiern, damit auch das nächste Jahr ein fruchtbares Jahr werden wird. Ich habe sie gesehen, die Prozession durch die Stadt, wie die Ahnen, die alten Inka und ihre Frauen, hockend und prächtig angekleidet mit schönen Masken, auf den goldenen Sänften durch die Straßen getragen wurden und allen ihren Segen gaben. Sie nahmen auch Teil beim Festmahl. Das konnte ich aber nicht sehen.“
Jetzt hatte Wanasqia einen wirklich wichtigen Gesichtsausdruck, der Alayna erfreute.
„Genau, das ist ein gutes Beispiel. Es ist ein sehr kraftvoller Ritus, die hockenden Mumien dieser großen Herrscher so würdevoll gekleidet und geschmückt mitzunehmen, ob Fest oder Krieg. Sie haben alle zu dem Erfolg der Inka beigetragen und ihre Kraft hilft den Inka auch weiterhin. Ihre Seelen bleiben auf diese Weise bestimmt in der Nähe ihres Körpers. Deswegen werden sie mumifiziert, denn ohne, dass der Körper wenigstens zum Teil erhalten ist, hat die Seele es schwer, in Erdnähe und bei der Wiederkehr in der Nähe der Familie zu bleiben. Allerdings erhält unser trockenes Klima in der Wüste und auf den Bergen die Toten auch sehr gut. Ich finde es schön, dass die alten Inka und deren Quyas so am Leben weiter teilhaben und ihnen die Ehre erteilt wird, die ihnen gebührt. Sie sind wahre Wak’as. Du weißt doch, was Wak’as sind, oder?“
Alayna hielt mit dem Hämmern inne und sah seinen Sohn an, der kurz mit dem Lochen der Plättchen aufgehört hatte und nun etwas zögerlich sagte:
„Nicht ganz genau. Ich weiß nicht, ob ich es richtig verstehe. Ich weiß nur, dass ein Tempel ein Wak’a ist.“
„Du darfst gern meinen Redefluss unterbrechen, wenn du etwas nicht verstehst. Nur den hohen Jungen der Adeligen ist es vergönnt, ihr Wissen im Haus des Wissens zu erweitern. Allen anderen bleibt die Ausbildung im elterlichen Haus oder in der Familie. Ich möchte dir weitergeben, was ich weiß, daher frage, mein Sohn, frage.
Wak’a, das bedeutet so viel wie heilig. Aber es ist noch mehr. Es ist die heilige Energie und das heilige Wesen, das etwas Heiliges umgibt, und ist es mit ihm zusammen. Heilig kann vieles sein – die Tempel, das ist richtig, aber auch die geweihten Statuen der Götter, Orte und Gegenstände können heilig sein. Heilig ist etwas, wenn es eine tiefe Verbindung zu einer Gottheit hat und zu einem für uns sehr hohen geistigen Wesen. Unser Großer Sapay Inka, Inka Kimra Wayna Qhapaq, und seine Frau und Quya[5] Mama Tanupaq Rawa Uqllu sind lebende Wak’as. Du weißt, wenn sie vorüberziehen, getragen in ihren goldenen Sänften, hält das Volk respektvoll Abstand. Sie umgibt eine heilige Energie, der man sich nur auf Anfrage nähern darf. Und stets mit gesenktem Blick, nie direkt in die Augen sollte man schauen und auch immer eine Art Last mit sich tragen und…“
„…Und ein kleines Opfer für sie geben. Blumen oder eine Wimper, wenn man gar nichts hat, das genügt. Ich verstehe jetzt, wie es gemeint ist. Ich war mir nur nicht ganz sicher. Dann sind es auch die Berge, die Berge sind Wak’as!“, meinte Wanasqia, der zeigen wollte, dass er sich erinnerte und es verstanden hatte.
„Und warum?“, fragte Alayna nach.
„Weil die Kraft von Mutter Erde, von Pachamama, dort besonders zu spüren und immer gegenwärtig ist. Sie sind die Brüste von Mutter Erde. Und das Wasser der Quellen aus den Bergen ist die Milch, mit der sie die Erde nährt. Aber ich habe noch nie eine Statue von ihr gesehen, ich weiß gar nicht genau, wie sie aussieht“, überlegte Wanasqia weiter.
„Denke dies einfach weiter. Warum bilden wir sie nicht direkt ab?“
„Vielleicht, weil sie zu groß ist und das Gold für ihre Statue nicht ausreichen würde“, sagte Wanasqia, aber er merkte, dass das nicht die rechte Antwort war.
„Denke nur weiter, mein Sohn. Es liegt nicht an der Menge des Goldes. Wo siehst du Pachamama? Denke einfach laut, du wirst es gleich finden“, versuchte Alayna, ihn auf die Spur zu bringen. Wanasqia überlegte weiter:
„Sie ist in der Erde, in den Bergen, im Wasser, in der Luft, in den Pflanzen, in den Tieren… Sie ist überall um uns herum und wir leben mitten in ihr, so groß ist sie.“ Wanasqia zuckte mit den Schultern.
Nun lüftete Alayna doch des Rätsels Lösung:
„Das ist alles sehr richtig. Eben weil sie überall zu sehen ist, ist ihre Skulptur überall gegenwärtig. Du brauchst keine Skulptur für sie, denn sie ist der Stein oder das Meerschweinchen oder das Llama, der Vogel, dieses Blatt dort! Sie ist überall und kann an jedem Ort geehrt werden! Dann gibt es natürlich die speziellen Götter, aber Pachamama verbindet alles, was auf der Erde ist. Die Kraft von Pachamama ist überall gegenwärtig und an manchen Orten ist sie besonders stark zu spüren. Diese Orte kennen unsere Schamanen, daher wählen wir solche Orte aus, um zu opfern. Auf dem Land wird Pachamama noch mehr verehrt und ihr Rauch- und Trankopfer dargebracht. Hier in Qusqu ist es Inti, der Sonnengott, der mit jeder Handlung verehrt wird, weil er den Inka seine Kraft übertragen hat, um dieses große Land zu führen und Tawantinsuyu für den Sonnengott noch zu erweitern.
Es ist schlau, dass der Inka dem Volk erlaubt, seine eigenen Kulte weiter zu pflegen und ihren Göttern zu huldigen. Diese Kulte geben dem Volk ja auch die Kraft, die sie brauchen, denn ihre Tätigkeiten sind andere als die der adeligen Inka. Daher sind es andere Götter, die sie unterstützen, vor allem Pachamama und auch die Apus, die Herren Berge.
Zusätzlich schenkt der Große Sapay Inka dem Volk auf dem Land und in den entfernten eroberten Städten und Gebieten die wunderschönen Tempel des Sonnengottes Inti. Damit ist klar, dass er die höchste Stellung im Reich hat und auch ihm geopfert werden soll. Er hält schließlich alles zusammen und gibt allem und allen seine Ordnung. Wenn die Menschen ihren gewohnten Riten nachgehen können und es ihnen gut geht, dann sind sie sehr schnell auch einem neuen Herrscher gewogen und seinem Gott. Die, die es nach wie vor nicht sind, werden, wie wir ja schon gesagt haben, einfach weit entfernt umgesiedelt, um an einem neuen Ort neu anzufangen, den es aus strategischen Gründen zu bewirtschaften gilt.
Auch Bäume können Wak’as sein, besonders die alten. Sie liebe ich besonders. Und Höhlen, Quellen. Schon so manch eines meiner Kunstwerke wurde zu einem Wak’a, da sie der Sapay Inka persönlich huldigt. Flüsse können Wak’as sein – und – die Ahnen! Wir ehren sie, damit sie weiter bei unserer Familie bleiben und sie unterstützen, um vielleicht irgendwann einmal wieder zu ihr zurückzukommen. Wir feiern mit ihnen und lassen sie an unserem Leben teilhaben. Deswegen werden ihre Mumien im Haus des Friedens aufbewahrt, welches zu unserer Ayllu, also unserer Gemeinschaft aus zehn Familien, gehört.
Der hohe Sapay Inka nimmt sogar die männlichen Ahnen, meist seinen Vater und Großvater, mit auf Eroberungszüge. Nur mit ihrem Segen starten sie Angriffe. Die, die mit den Wak‘as sprechen können, werden besonders geschätzt. Meist sind es unsere Schamanen, aber auch andere einzelne Leute können so manches Wak’a verstehen.“
Er machte eine kurze Pause, trank etwas und blickte seinen Sohn über den Kürbisbecher an.
„Yaya, kannst du ein Wak’a verstehen?“ Alayna freute sich über diese Frage, denn er hatte noch nie mit jemandem darüber gesprochen und wollte es doch gern einmal loswerden.
„Ja, ich glaube, ein wenig. Hin und wieder passiert es, dass, wenn ich eine Skulptur zu einer Gottheit anfertige, dass ich ihr Wesen plötzlich verstehe. Der Inka hat einen goldenen Garten mit goldenen Bäumen und Pflanzen und mit goldenen Tieren. Auch mit silbernen. Doch ich arbeite meist nur mit Gold, weil dies der Schweiß des Sonnengottes Inti ist und der Inka dies besonders schätzt. Ich glaube allerdings auch, dass es daran liegt, dass die Silbervorkommen nicht so reich sind wie die Goldvorkommen. Und, der große Inti soll sich schließlich in jedem dieser Kunstwerke wiederfinden. So arbeitete ich bei meinem letzten Auftrag für den goldenen Garten des Inti, an einem fast lebensgroßen Usu, also diesem göttlichen Bären mit der dunklen Zeichnung um die Augen, die aussieht als würde er eine Maske tragen. Ich habe noch nie einen gesehen, also ging ich mit deinem Onkel, der vor einiger Zeit eine trächtige Bärin gesehen hatte, zu jener Stelle. Ihre Höhle konnte demzufolge nicht weit von diesem Ort entfernt sein. Wir fanden sie auch. Es war sehr gefährlich. Wir hatten eine Ledertasche voller Honig mitgebracht und auf dem Weg noch ein großes Stück Puja abgebrochen, das Bären so sehr lieben!“
Er warf einen Blick zu seinem Sohn, der ihn fragend ansah.
„Eine Puja hast du doch schon gesehen, mein Sohn! Das sind die Pflanzen, die noch weiter oben in den Bergen wachsen. Sie sind sehr schlank und hoch, wenn sie blühen. Sie können bis zu 100 Jahre alt werden. Sie blühen nur einmal und sterben danach. Ohne Blüte sind sie schon riesig, fast zweimal so hoch wie ich und ihre Blätter sind sehr spitz. Mit der Blüte können sie siebenmal so hoch werden wie ich. Sie sind wunderschön und sehr erhaben. Die Kolibris lieben ihren süßen Nektar, genauso wie eben diese Augenmaskenbären, die Usus.
Wir fanden die Höhle und warteten.
Schließlich kam sie heraus. Die Jungen waren anscheinend drinnen, denn sie schien sich nur kurz die Füße zu vertreten, schnupperte in alle Richtungen und schlüpfte alsbald wieder hinein. Ich hatte genug gesehen. Sie war einfach bezaubernd. Zum Dank, dass sie sich mir von allen Seiten gezeigt hatte, legte ich ihr von dem Honig auf einen Stein nahe bei ihrer Höhle und ich traute mich, jetzt würde ich das nie wieder tun, das Stück Puja direkt vor ihre Höhle zu legen, damit sie den Duft der süßen Blüten nach drinnen riechen und diesen Leckerbissen gleich holen kann. Das würde ihr Kraft geben. Die Bärenmütter gehen nämlich sonst nicht auf Futtersuche, wenn sie sich um ihre Jungen kümmern.
Zu Hause fing ich an, an der Form zu arbeiten. Goss Gold und formte, bog, hämmerte bis eine grobe Form entstanden war. Doch auf einmal konnte ich mich an die kleinen Details nicht mehr erinnern. So stand ich ideenlos vor der fast lebensgroßen Bärin, da hörte ich eine Stimme, die da sagte, dass sie Hunger hätte. ‚Natürlich!’, dachte ich, denn sie würde eine Wak’a werden und Wak’as werden gefüttert, beziehungsweise es wird ihnen Essen dargeboten. Also besorgte ich Honig und stellte eine kleine Schale vor sie auf den Boden. Was glaubst du, was sie dazu sagte?“
Irritiert antwortete Wanasqia:
„Ich weiß es nicht. Ich habe noch nie ein Wak’a sprechen hören“, und zuckte ratlos seine Schultern.
„Sie sagte: ‚Leg den Honig bitte auf einen Stein, so, wie du es oben getan hast.’ Ich verstand. Ich holte keinen Stein, sondern ich goss und formte einen Stein aus Gold. Darauf stellte ich den echten Honig.
‚Und nun arbeite mein Gesicht. Fang einfach an, ich führe deine Hände. Und so geschah es. Ich weiß bis heute nicht, wie ich sie fertigbekommen habe, so lebensecht, nur in Gold. Ich hatte ihr Wesen erkannt, ihre Liebe und ihre Aufgabe, weil ich aufrichtig und ehrlich war. Deswegen konnte ich sie hören. Leider habe ich keinen Zutritt zu dem Garten, um sie öfters zu besuchen und ihr Honig zu bringen, aber selbst jetzt, wo ich dir davon erzähle, scheint sie hier bei uns zu stehen. Ich weiß, dass sie jetzt nicht mehr in der Höhle ist, dass ihre drei Jungen wohlauf sind und ihre eigenen Wege gehen. Sie sagte mir, ich könne sie rufen, wenn ich in Not sei. Sie ist wie mein Schutztier. Die Schamanen haben Schutztiere. Aber ich… Du siehst, ein Künstler, der sich tief mit seiner Arbeit verbindet, kann bisweilen auch das Wesen erkennen.
Eigenartig ist das, aber sehr, sehr bewegend und sehr, sehr schön.
Die Usus, sie sind Göttertiere. Sie tragen Botschaften zu den Apus, den Berggöttern und gelten als Vermittler zwischen Gut und Böse, zwischen Leben und Tod. Ich hätte sie gern als kleine Skulptur bei mir, aber ich weiß, in dem Moment würde sie von mir verschwinden.
So bewahre ich sie tief in meinem Herzen.
Der Inka selbst kann natürlich als Priester des 6. Ranges, als Sapay Inka, mit den Wak’as reden. Das ist wichtig, da er für das Volk spricht, bittet und dankt. Dennoch ruft er bei all seinen Entscheidungen einen Schamanen um Rat oder seinen Bruder, den Hohepriester. Die Schamanen reisen vor allem in die Welt der Ahnen und die Welt der Seelen und können dort mit ihnen sprechen und sie um ihre Mithilfe oder um ihren sehr geschätzten Rat bitten, oder eben die Wak’as um Rat und Hilfe bitten.
Tiere können Wak’as sein, wie du eben gehört hast. Schlange, Puma und Kondor – du weißt, was sie darstellen?“, fragte Alayna. Sein Hämmern wurde immer langsamer, doch das Reden lenkte ihn etwas von seiner Erschöpfung ab und hielt ihn wach.
„Der Kondor steht für Hanan Pacha, die obere Welt, die Welt der Sterne und Götter, eben den Himmel.
Der Puma steht für die Welt, in der wir leben, Kay Pacha, die mittlere Welt, die Welt der Lebenden.
Also zählen die Orte, die diese heiligen Tiere symbolisieren, auch zu den Wak’as.
Die Schlange steht für die untere oder das Innere der Welt, Ukhu Pacha.
Wir sind von Hanan Pacha und Ukhu Pacha umschlossen. Die Schamanen können die anderen Welten bereisen, wir nicht.
Wenn wir es aus der Sicht der Zeit sehen, dann bezeichnet die Schlange die Vergangenheit, das, was vor uns liegt, das was wir schon gesehen haben.“ Wanasqia machte eine Handbewegung nach vorn.
„Der Puma ist die jetzige Zeit und der Kondor bezeichnet die Zukunft, die noch hinter uns liegt, da wir sie noch nicht sehen können.“ Jetzt zeigte er mit dem Daumen nach hinten. Wanasqia war stolz, so viel dazu beitragen zu können. Alayna sah ihn irritiert an:
„Mein Sohn, wie kann es sein, dass du die Zeit so siehst wie die Aymara? Und du machst auch noch die gleichen Handbewegungen. Das ist mir bisher noch nie aufgefallen!“
„Das ist doch ganz einfach. Das, was gerade passiert ist, haben wir gerade gesehen und liegt daher noch ganz nah vor uns. Das, was wir schon vor langer Zeit gesehen haben, liegt weit vor uns, denn wir sehen es nur noch klein aus unserer Erinnerung. Und das, was wir bald sehen werden, ist direkt hinter uns und sobald wir es sehen, ist es im Jetzt und gleich darauf ist es geschehen und liegt vor uns. Der jetzige Zeitpunkt ist nur ein ganz kurzer Moment, denn entweder es ist etwas in meinem Blickfeld, weil etwas schon geschehen ist und ich kann es wahrnehmen oder eben nicht, dann ist es noch hinter mir und sehe es nicht, eben wie die Zukunft“, erklärte Wanasqia wie selbstverständlich.
„Ich muss sagen, das überrascht mich wirklich! Wenn du dich mit den anderen verständigen kannst, warum nicht. Die Aymara leben auch damit.
Was mir da zu den Aymara einfällt. Sie wurden ja auch von den Inka mit in ihr Herrschaftsgebiet eingeschlossen. Sie erhoben den gleichen Anspruch auf Gebiete um den Titicacasee und die Sonneninsel wie die Inka, doch sie verloren. Ich glaube aber, dass gewisse Prinzipien sogar von ihnen übernommen wurden. Auch deren kleinste Form der Gesellschaft ist das Ayllu, eben der Familienverband bis hin zur Großfamilie in einem dörflichen Verband. Auch sie bewirtschaften gemeinsam ihre eigenen Felder und hüten gemeinsam die Tiere. Die Frauen weben zusammen und jeder sorgt dadurch für jeden. Sie waren allerdings nicht so gut von oben organisiert und soll es zu Streit unter den einzelnen Gruppen gekommen sein. Nun, das hat jetzt ein Ende und sie können weiterleben wie bisher, nur dass ein Teil der Arbeit auch an den Inka geht, der aber ja wiederum den Sonnenkult betreibt und in Notzeiten Essen und Kleidung austeilt. Mit dem Sonnenkult haben sie sich arrangiert, glaube ich, denn sie können, wie viele Landbewohner von uns auch, weiter Pachamama opfern, wie sie es seit Jahren gewohnt waren. Pachamama ist für sie die größte und wichtigste Göttin, die sie alle ernährt, sie ist Mutter Erde und der Ursprung allen Lebens.
Auch das kann ich sehr gut verstehen und ehre Pachamama ebenso.
Du hast also wie sie die Angewohnheit, die Zeit anders zu sehen. Das erste Mal, als ich mit einem Aymara sprach, war ich irritiert, aber nun kenne ich es. Ich muss eben nur einen Moment umdenken und es in meine Sichtweise rücken.“
„Ich habe noch etwas vergessen. Die Schlange drückt die Vergangenheit aus und damit auch das Wissen und die Weisheit. Der Puma steht für Mut und innere Stärke, die wir im jetzigen Leben brauchen. Und der Kondor ist der Bote von Vater Sonne Inti. Er trägt unsere Seelen in die untere Welt, wenn wir gestorben sind, damit sie von den Wächtern der Erde neu über alles belehrt werden können. Der Kondor bringt die Seele danach in die obere Welt, wo sie darauf wartet, wieder auf der mittleren Welt geboren zu werden. Ganz wichtig ist, für diese Reise Fleisch mitzunehmen, wohlgenährte, leckere Meerschweinchen zum Beispiel, um den Kondor während des Fluges zu füttern.
Außerdem erinnert der Kondor uns stets daran, das Gleichgewicht von oben und unten und überhaupt zwischen allem zu halten. Diese Aufgabe hat vor allem der Sapay Inka, der alles im Blick hat und von oben alles koordiniert und organisiert und dafür sorgt, dass der Ausgleich gewahrt bleibt. Der Kondor ist frei, er kann überall hinfliegen. Es muss schön sein, ein Kondor zu sein!“, schwärmte Wanasqia.
„Ja, das muss wahrhaft schön sein. Es gibt einem schon ein erhabenes Gefühl, wenn man diesen großen Vogel hoch über den Bergen gleiten sieht. Wenn du einmal die Reise auf dem Rücken eines Kondors antreten wirst, wird es dein Kondor sicher sehr guthaben, da er von dir bestimmt mit den schönsten Gaumenfreuden des Landes während eures Fluges versorgt wird.“ Alayna lachte, spürte aber schon wieder Husten und Hitze auf-kommen und hielt rasch inne. Sein Sohn sah ihn besorgt an, doch er redete gleich weiter, um ihn und auch sich selbst abzulenken.
„Die Wak’as – auch der Regenbogen ist ein besonderes Wak’a und die wunderschöne rote Meeresmuschel von Mama Qucha, Mutter Meer. Du weißt, Naymlab ging stets über den Staub dieser Muscheln. Sie wird als sehr wertvolles Opfer verwendet. Auch der Sonnengott liebt diese kostbare Meeresmuschel.
Ich glaube, allein in Qusqu gibt es über dreihundert Wak’as und um alle muss sich gekümmert werden, ihnen durch Gebete und Opfergaben gedacht werden. Wenn einem Wak’a nicht direkt geopfert werden kann, denn wie soll man einem Regenbogen opfern, dann gibt es eben Tempel oder Statuen, in denen diese hohen Wesen wohnen und dort können sie geehrt und mit Speis und Trank versorgt werden.
Außerhalb der Stadt werden vor allem die Apus verehrt, die Berggottheiten. Die Waldgottheiten sind wichtig, denn sie sind in den Bäumen, den Flüssen und den Seen beheimatet. Sie halten dort das Gleichgewicht und sorgen für die Fruchtbarkeit des Bodens.
Welches wichtige Symbol fällt dir da noch ein, wenn wir über die drei Stufen oder Welten, von Hanan Pacha, Ukhu Pacha und Kay Pacha reden?“ Alayna lächelte seinen Sohn von der Seite an.
„Ein Symbol von Schlange, Puma und Kondor? Das kenne ich nicht.“ Wanasqia zuckte ratlos seine Schultern.
„Denke nicht direkt an die Tiere, sondern an ein schlichtes Symbol, das aber die drei Welten sehr gut ausdrückt“, half Alayna ihm auf die Spur.
„Natürlich, du meinst das Kreuz!“, rief Wanasqia erfreut und Alayna mahnte ihn gleich:
„Nicht so laut, wir sind noch nicht fertig mit unserer Arbeit. Solange der Bote draußen schläft, stehen wir nicht unter Druck.“ Wanasqia flüsterte weiter:
„Verzeih, Yaya. Du meinst das Chakana!“ Er unterstrich die Wichtigkeit jetzt mit einer bedeutsamen Mimik. „Das Chakana, das einen zackigen Berg nach unten zeigt, der Ukhu Pacha, der Unterwelt. Die Mitte, die Stufe, auf der wir leben, also Kay Pacha, eben die Erde, und der zackige Berg nach oben, Hanan Pacha, der den Himmel beschreibt. In der Mitte ist ein Loch. Das ist Qusqu, der Nabel der Welt inmitten von allem und alles verbindend. Für mich sieht es aus wie ein Berg, der sich in einem glatten See spiegelt. So ist der Berg sogleich die Verbindung nach oben und nach unten, denn der See führt in die Unterwelt. Es zeigt auch die Vier Himmelsrichtungen von Tawantinsuyu, dem Reich der Inka, und weist auf das Kreuz am südlichen Himmel.
Das Chakana hat zwölf Ecken, jede Ecke steht für einen Monat im Jahr. Alle zwölf stehen für den Kreislauf des Jahres.“
„Es sind jeweils drei Ecken an einer Seite. Könnten diesen auch noch andere Bedeutungen zufallen?“, fragte sein Vater genauer.
„Ja, ich weiß, was du meinst. So kann man es auch sehen. Die ersten drei Ecken können für die drei Welten stehen,
Hanan Pacha,
Ukhu Pacha und
Kay Pacha.
Die nächsten drei Ecken stehen dann für deren Tiersymbole
Kondor,
Schlange und
Puma.
Dann kommen die drei wichtigsten Tugenden unseres Volkes:
Yachay, für Wissen und Weisheit,
Munay für Liebe und
Llankay für Dienst und Arbeit.
Alles in Bezug auf die Gemeinschaft, auf die Gemeinschaft der Menschen untereinander, den Menschen mit den Göttern, den Menschen mit der Natur.
Die letzten drei Zacken stehen für die Gemeinschaft der Inka:
Ayni, das gegenseitige Geben und Nehmen,
Mita, der Arbeitsdienst für den Inka und
Minka, die Arbeit für die Dorfgemeinschaft.“
Zufrieden nickte Wanasqia sich selbst zu.
„Ja, du hast es treffend beschrieben. Jetzt habe ich noch eine Frage an dich. Was ist es, das ein Wak’a ausmacht, das aber auch einen einfachen Stein ausmacht, ein Maiskorn, dich, mich, ein Meerschweinchen oder egal was?“ Alayna hielt einen Augenblick inne und beobachtete seinen Sohn
„Es ist Kawsay, die Energie des Lebens. Vielleicht ist es auch das Wesen, das alles umhüllt, das wir nicht sehen können. Meist können es nur die Schamanen sehen“, überlegte dieser laut.
„Das ist richtig. Die Schamanen arbeiten mit Kawsay. Sie können die Krankheit darin erkennen – eine Art Schatten, der den Sitz der Krankheit anzeigt. Es ist sozusagen eine Störung in unserem Energiefeld, das uns wie eine Blase umhüllt.
Solange diese Schatten in unserem Energiefeld sind, können wir nicht gesund werden, da der Körper durch die Schatten ständig wieder an die Krankheit erinnert wird. Kann der Schamane diesen Schatten entfernen, dann ist das Energiefeld wieder gesund und der Körper kann heilen, ohne dass er durch den Schatten wieder gestoppt wird. Ich habe gehört, dass Ängste diese Schatten verursachen können, die dann, wenn man sie nicht bewältigt, durch eine Krankheit auf den Körper übergehen. Deswegen sucht der Schamane bei seinen Reisen nach den Ursachen der Angst, damit er dem Menschen helfen kann, sich von diesem krank machenden Schatten zu befreien. Er kann zwar den Schatten auch manchmal so entfernen, doch wenn die Ursache, die Angst, nicht überwunden ist, dann wird der Schatten sich wieder neu bilden.“
„Ich habe einen Schamanen beobachtet, der nur mit seinen Händen gearbeitet hat und in tiefer geistiger Versenkung. Er konnte die Frau heilen. Er muss ein hoher Schamane gewesen sein.“
„Ja, das war er mit Sicherheit. Ein guter Schamane kann das. Er macht sich frei von allen Bindungen, um Antworten zu bekommen. Seine Arbeit ist manchmal auch sehr gefährlich. Er muss darauf achten, sich immer zu schützen. Aber das lernt er in den vielen Jahren seiner Ausbildung, wo er lernt, die Wesen zu verstehen. Es geht darum, das zu verstehen, zu sehen, zu hören, zu fühlen, wahrzunehmen, das wir Ungeübte nicht sehen können.
Bei den Priestern ist einer, der durch Handauflegen heilen kann, ein Inka Malluk, etwa die 5. Stufe. Der Bruder unseres Sapay Inka ist ein Inka Malluk. Die Priester und Schamanen arbeiten bisweilen sehr ähnlich, die einen dienen darüber hinaus den Göttern und die anderen gehen einer normalen Arbeit nach, hüten Llamas in den Bergen. Sie leben meist eher zurückgezogen auf dem Land in einer kleineren Gemeinschaft und ehren Pachamama und andere Wak’as.
Beides sind lange Wege der Ausbildung, auf welchen sie an sich arbeiten, bis sie mit der geistigen Welt sprechen können. So steigt der Rang eines Priesters langsam vom Lesen der Kokablätter und dem Bereiten der Opfergaben über seine Auseinandersetzung mit den Schatten, eben den Ängsten, Schwierigkeiten und Problemen über die Stufe, wo er diese Schatten bewältigt, indem er nun weiß, wie er mit ihnen ein harmonisches Leben führen kann, sodass er dann den Umgang mit dem Kokablattkauen und anderen Kräutern erlernen kann. Schließlich kann er über sich selbst hinauswachsen, sich selbst loslassen und durch einfaches Handauflegen Heilung bringen. Sie können ebenso mit Kawsay arbeiten, mit der Lebensenergie um den Körper herum, mit den Energiegürteln. Sie verstehen sich in der Technik, die schwere Energie von Angst, Wut, Neid und Ähnlichem zu essen und zu verdauen. Schwere Energie können nur die Menschen haben, Tiere nicht.
Ab einem gewissen Wissensstand können Schamanen wie Priester über das Verbinden ihrer Energieblasen ihr Wissen austauschen.
Das ist jetzt eine kurze Zusammenfassung. Die priesterliche und die schamanische Ausbildung sind harte, lange Wege. Sie halten die Verbindung vom Sichtbaren zum Unsichtbaren, von Erde zum Himmel, vom Körperlichen zur Welt der Götter, zu den Wak’as, Geistern, Ahnen, Seelen und Kawsay, von der schweren zur feinen Energie.
Über allem steht das Gesetz von Ayni, von Geben und Nehmen. Dabei gehen die Welten des Sichtbaren und Unsichtbaren ineinander über. Es ist der heilige Ausgleich von Energien.
Auch du kannst deine Energieblase mit den Energieblasen der anderen vereinen. Wenn die Bauern auf dem Feld zusammenarbeiten und dabei singen, dann glaube ich, dass dadurch all ihre Energieblasen verschmelzen und ihnen das Arbeiten leichter fällt. Du kannst deine Energieblase mit einem Baum verbinden, mit einem See, einer Quelle, einer Blume, einem Tier…“
„…Oder einem Wak’a. Ich glaube, ich verstehe, was du meinst. Du hattest deine Energieblase mit der Bärin verschmolzen, deswegen konntest du sie verstehen, auch wenn sie nicht direkt vor dir stand, sondern ihr Wak’a. Du hast ihr geholfen und so wird auch sie dir eines Tages helfen und dir Kraft geben, wenn du sie brauchst.
Es muss sich so schön anfühlen, wenn alle Menschen glücklich sind und sich dann ihre Energiebasen verbinden. Welch ein erhabener Augenblick muss das sein!“
„Das ist Sumaq Kawsay, gutes Leben, das höchste Ziel! Du bist auf einem guten Weg, mein Sohn. Das merke dir stets, denn es ist das Wichtigste in unserer Gemeinschaft. Wenn sich alle Menschen daran halten, dann wird das Zusammenleben stets gerecht und für alle gut sein! Alle werden zufrieden sein mit ihrem Leben und einen starken Zusammenhalt fühlen!“
Wanasqia merkte auf einmal, dass seine tiefe Besorgnis um seinen Vater einem tiefen Vertrauen wich, denn er wusste nun, dass, auch wenn er die unheilvolle Krankheit haben sollte, er durch die Kraft der Bärin überleben würde.
„Mir fällt gerade ein, welchen Kult die Inka nicht von den Chimú übernommen haben, jedenfalls nicht im Hauptsächlichen. Es ist unsere große Verehrung für Mama Qilla, Mutter Mond, die große Schwester und Frau von Tayta Inti, Vater Inti. Ich verehre sie immer noch wie zuvor, für mich. Sonne und Mond haben ihre besonderen Kräfte, die beide so unermesslich wichtig sind für das Leben hier auf der Erde, das habe ich hier gelernt. Doch die Chimú glauben, dass die bleiche Mutter Mond eben mächtiger und stärker ist als Vater Sonne, da sie Tag und Nacht am Himmel stehen und lediglich durch das stärkere Licht von Vater Sonne nicht immer gesehen werden kann. Vater Sonne taucht des Nachts im westlichen Meer unter und ist die ganze Nacht über nicht zu sehen. Erst zum Morgen steigt er hinter den Bergen wieder auf. Ich habe dir schon einmal davon erzählt…“
Er sah prüfend zu seinem Sohn.
„Ja, du hast mir von dem großen Fest erzählt, welches ihr als Sieg von Mutter Mond gefeiert habt, als sie Vater Sonne verdeckte, so groß ist nämlich ihre Kraft. Sobald aber der Schatten der Erde auf sie fiel, begannen Klageweiber klagende Lieder zu singen. Bei einer Mondfinsternis habt ihr die Hunde geprügelt, damit sie mit ihrem Jaulen Mama Qilla wieder zurückriefen“, erinnerte sich Wanasqia.
„Mama Qilla ist eng mit dem Meer verbunden und der Zyklus der Frau ist eng mit ihr verbunden, also ist sie die Bringerin der Fruchtbarkeit und die heilige Lebensspenderin. Vater Sonne hingegen verbrennt die Erde und macht, dass man sich abmühen muss, die Felder zu bewässern, damit nichts vertrocknet.
Hier in Qusqu habe ich neu erkannt, dass seine Kraft auch das Licht ist, denn ohne sein Licht würden die Pflanzen auch nicht wachsen. Auch nicht ohne seine Wärme. Also brauchen wir beide für unser aller Leben. Dennoch…“, er fuhr mit einer Hand an seinen Nacken und schob die Haare beiseite, „…dennoch habe ich allein durch dieses Zeichen, das ich seit meiner Geburt trage, eine engere Beziehung zu Mutter Mond.“
Er zeigte seinem Sohn das sichelförmige Mal unter seinem Haaransatz. Wanasqia staunte bewundernd.
„Wir haben Mondhäuser für sie errichtet, wo auch Kinder geopfert wurden. Das ist jetzt verboten. Die Mondhäuser haben sie aber stehen lassen, mit der Auflage, Tayta Inti als obersten Gott anzuerkennen und in den neu errichteten Tempeln zu ehren. Das ist ja kein Problem, denn, wie ich schon gesagt habe, hat Vater Sonne ebenso viel Kraft, die ich sehr schätze.
Wir haben viele Sterne verehrt, den Morgenstern und den Abendstern, der sich mal so, mal so am Himmel zeigt, in exakter Regelmäßigkeit, und den Sternenhaufen, der wie ein Spielplatz oder ein Tanzplatz der Sterne aussieht. Mit seinem Erscheinen begann bei uns das neue Jahr.
ChanChan war eine prächtige Stadt auf einer großen Fläche. Sie war von zwei großen Wehrmauern umgeben und in zehn Viertel eingeteilt, die auch wiederum von Mauern umschlossen waren. Sie war eine sehr sichere Stadt, bis die Inka kamen und uns, als sie anders nicht an uns rankamen, das Wasser nahmen. ChanChan war eine grüne Stadt, denn wir hatten alles bewässert mit langen Wasserleitungen aus den Bergen. Zwischen den einzelnen Stadtbezirken waren Felder, die wir zum Teil ausgehoben hatten. In den Stadtteilen waren viele Gärten und alle hatten ihre eigenen Tempel und mittendrin waren die beiden Tempel der Schlangen, die heiligsten aller Tiere. Die Stadt gehörte vorher einem anderen Volk, die ihre Könige Chimú nannten, daher heißt unser Volk nun auch Chimú. Sie kamen, so heißt es, aus dem Moche-Tal und haben die Küste nach und nach vereinnahmt. Es heißt, auch die Lambayeque hätten von diesen Moche-Menschen damals vieles übernommen, also auch wiederum wir. Sie sollen damals Fliegen verehrt haben, weil sie die Seele befreien würden, die sie vom verwesenden Fleisch der Toten abaßen und mitnahmen. Sie sollen viele Menschenopferungen vollzogen haben, bis fast keiner mehr von ihnen übriggeblieben war, was mich nicht verwundert. Aber die Leute reden auch viel, keiner weiß es wirklich, denn wer kann schon ihre merkwürdige Schrift auf den Bohnen entziffern? Vielleicht gelingt es dem Großen Inka.
Jedenfalls sollen sie schon mit Gold, Silber und Kupfer gearbeitet haben, deren Technik wir natürlich noch wesentlich verfeinert haben. Auch ihre Gefäße seien bunt gewesen und voller Malereien, die wie Bilder etwas mitteilten, ganz im Gegensatz zu unseren Keramiken, die schlicht und einfach schwarz und glänzend sind, ganz ohne Malerei. Uns kam es nicht auf Schönheit an, sondern auf schnelle Herstellung, denn es handelte sich um Gegenstände des täglichen Gebrauchs. Wenn man etwas Besonderes brauchte, dann drückte man dies eben in der Form aus. So hat alles seine Vor- und Nachteile. Und jetzt, wo so viele Völker zu einem Volk vereint sind, kann sich der Große Inka die besten Formen, Farben, Materialien und die besten Künstler und Handwerker zusammensuchen, um allem einen gemeinsamen und verbindenden Ausdruck zu verleihen. Auch das hat Vor- und Nachteile. Ein Nachteil ist, dass so manch schöne Kunst dadurch verlorengeht. Nun, immerhin können die Götter und die Kulte weiterleben.
Die Chimú – weit reichte das Reich der Chimú. Wohl an die zweihundert Jahre lang hatte es seine große Blütezeit, bis die Inka gesiegt hatten, trotz der großen mächtigen Mauer der Chimú, die mit ihren vierzehn großen Bollwerken von den Bergen bis zum Meer reichte. Es existiert noch an vielen Stellen weiter, aber unter der neuen Organisation.
So, das ist das letzte Kügelchen… Das letzte Plättchen…“ Er seufzte erleichtert auf.
„Und das ist das letzte Loch ins letzte Plättchen“, ergänzte Wanasqia fröhlich und legte das letzte goldene Plättchen in die kleine Kiste, die jetzt ein gutes Gewicht angenommen hatte.
Alayna ging vor die Tür und weckte den Boten:
„Purqun, wach auf, wir sind fertig. Bring die Kiste zur Weberin.“
Ein stattlicher junger Mann im Alter von neunzehn Jahren, scharfblickenden Augen und einer stark gebogenen Nase war sofort hellwach und schlug seine Decke zurück.
„Du hast schnell gearbeitet, Goldkünstler. Das ist gut. Das wird den Sapay Inka erfreuen. Und ich freue mich, dass ich endlich etwas zu tun bekomme. Dieser Auftrag ist für mich ermüdend durch das Nichtstun und Warten. Untätigkeit ist kaum auszuhalten! Nun ja, wenn die Weberin die Goldplättchen alle angenäht hat, ist das Tuch auch fertig und ich kann es in den Palast bringen. Ich denke, ich werde dennoch dem Großen Inka einen Zwischenbericht geben. Er wartet sicher darauf, außerdem habe ich dann mehr Bewegung“, sagte der Bote eher zu sich, dehnte sich und lockerte seine Muskeln.
„Bist du es sonst gewohnt, lange Strecken zu laufen?“, fragte Alayna, der sich wünschte, ein wenig von dieser frischen Energie zu besitzen.
„Lange Strecken sind es eher nicht, die wir laufen, dafür laufen wir schnell. Wir laufen meist öfters am Tag. Je nachdem, an welchem Posten man an welcher Straße gerade steht, hat man eine kürzere Bergstrecke oder etwas längere, flachere Strecke bis zum nächsten Übergabeposten.“
Er wickelte die Kiste in seine Decke, die er sich mit gekonnten Handgriffen umband.
„Aber dies ist ein spezieller Auftrag, abseits der gewöhnlichen Wegstrecken“, ergänzte der Bote mit bedeutungsvollem Tonfall.
„Der Tag fängt gerade erst an. Vater Inti zeigt sich bald, es ist schon hell. Du wirst heute bestimmt genug Einsätze bekommen. Wärest du Hüter der Llama-Herden geworden, hättest du sicher lange nicht so viel Bewegung wie jetzt“, munterte Alayna den Botenläufer auf.
„Ja, das ist schon recht so. Sie haben mich im letzten Jahr dazu ausgewählt, da meine gute Kondition sie überzeugte. Sonst wäre ich tatsächlich Llama-Hirte geworden wie die meisten meiner Brüder. Sie waren schon glücklich, als wir, seit wir zwölf waren, die Herden hüten mussten, wie es der Arbeitsplan des Großen Inka vorschrieb. Ich selbst war wiederum davor glücklicher, als wir drei Jahre lang die Saatkrähen von den Feldern fernhalten sollten. Wir hatten viel zu laufen und ich lief meist mehr als notwendig, das kannst du dir vorstellen. Ich gab den Saatkrähen erst gar keine Gelegenheit, auf unseren Feldern zu landen.“ Purqun machte eine Geste ins Innere des Hauses.
„Dein Sohn, warum ist er nicht bei den Herden? Er ist doch schon bestimmt in dem Alter, wo es die Pflicht eines jungen Mannes ist. Will er danach auch zu den Botenläufern gehen oder eher zu den Hirten, wenn er achtzehn ist?“ Das war eine sehr direkte Frage und machte Alayna etwas stutzig, denn er wusste um dessen direkten Kontakt in den Palast. ‚Er hat Augen wie ein Kondor, ihm entgeht nichts’, dachte Alayna bei sich. Aber er war sich keines Vergehens bewusst und antwortete ihm daher ruhig:
„Mein Sohn ist bei mir in der Lehre. Das hat der Große Inka persönlich so angeordnet. Ich konnte mir aussuchen, welcher meiner Söhne der begabteste Goldkünstler ist. Das ist eindeutig Wanasqia. Er unterstützt mich jetzt schon sehr mit seinen äußerst geschickten Händen und wird eines Tages all meine Werkzeuge und Hab und Gut vermacht bekommen. Seine beiden Brüder sind draußen in den Bergen bei den Llama-Herden und gehen den üblichen Weg für junge Männer.
Er hat leider nur eine Schwester. Sie ist bei ihrer Mutter und erlernt jetzt im ersten Jahr das Weben. Ich bin froh, dass sie nicht zu den Jungfrauen des Sonnengottes ausgewählt wurde, da sie bis jetzt die einzige ist, die meiner Frau zur Seite stehen kann. Was wirst du machen, nachdem du die Pflicht des Botenlaufens erfüllt hast?“
„Wenn ich ehrlich bin, mag ich daran gar nicht denken. Ich könnte mir vorstellen, mein ganzes Leben zu laufen.
Vielleicht kann ich es um eins, zwei Jahre verlängern. Ich habe davon zwar noch nicht gehört, aber vielleicht geht es, denn der Große Inka kennt und schätzt meine Zuverlässigkeit, da ich viele Botenläufe für ihn vom Palast aus erledigen darf. Er weiß, dass ich sehr schnell bin und bei außerordentlich guter Kondition. Und – dass ich nicht geschwätzig bin.
Aber ich befürchte, dass sie mich auch gern bei den Kriegern des Großen Inka sehen, eben wegen meiner Kondition. Wir werden sehen. Jetzt muss ich aber los.“
In dem Moment bekam Alayna wieder einen Hustenanfall, Purqun stützte ihn rasch, Wanasqia kam sofort mit Wasser und gab ihm etwas Honig. Dann führte Wanasqia seinen Vater nach drinnen, dem wieder Schweißperlen auf der Stirn standen.
Purqun machte sich auf den Weg.
Der Morgen war frisch. Etwas Wind war aufgekommen, aber es tat Purqun sichtlich gut zu laufen. Ohne das Laufen konnte und wollte er sich sein Leben nicht mehr vorstellen.
Es war nicht weit bis ins Viertel der Weberinnen. Alle Viertel der Stadt hatte der Inka genau eingeteilt. Im Haus der ausgewählten Weberin war es noch ruhig. Sie gehörte zu den besten Weberinnen des Landes, denn sie verstand, mit der feinsten Wolle und Baumwolle umzugehen.
Wie alle Weberinnen arbeitete sie den Stoff gleich in die richtige Form und Größe und verzierte diese mit ihren wunderschönen Mustern, die sie mit einarbeitete, aufstickte oder aufmalte. Ihre Farb- und Musterzusammenstellungen entsprachen genau den Vorstellungen des Großen Inka. Er freute sich sehr, als er mit in der Wüste gefundenen Resten von Decken älterer Kulturen zu ihr kam und sie diese sofort in die gängigen Inka-Motive einarbeiten konnte. Diese bestanden meist aus Mustern mit geraden Linien, die natürlich auch alle ihre Bedeutungen hatten, wie die stufigen Zackenlinien für die verehrten Berge, die Schlangenlinien, den verschiedenen Symbolen für Quellen, Flüsse, für Felder jeder Art, vor allem dieses in zackige Linien umgewandelte Blumenmuster oder all den Tieren wie der doppelköpfigen Schlange, Puma, Fisch, Llama oder Hirsch. Alles, was dem Inka heilig war, wurde in eine Decke mit hineingearbeitet. Sie hatte zudem großen Spaß daran, neue Farbtöne zum Färben aus getrockneten Läusen und Samen, aus Gestein, Blättern, Blüten und damit immer wieder neue Farbkombinationen zu finden. Wie alle Inka liebte sie die kräftigen Farben des Regenbogens.
Purqun rief nach ihr:
„Weberin Chay, ich komme im Auftrag des Sapay Inka!“ Nur kurze Zeit später erschien eine zierliche dünne Frau, die mit sehr schlaksigen Bewegungen daherkam. Als sie vor ihm stand, hatte sie eine unerwartet edle Ausstrahlung trotz der zudem noch in allen Richtungen abstehenden Haare, über die sie lediglich rasch ein Stirnband gezogen hatte, ein kräftig buntes natürlich. Sie blickte den Botenläufer mit ihren liebevollen Augen einer Hirschkuh an und sprach:
„Purqun! Schön, dass die Plättchen schon so früh fertig geworden sind. Ich habe an dem Tuch alles fertig gearbeitet und kann nun gleich damit anfangen, die restlichen Goldplättchen anzunähen. Es ist ja noch meine große Hoffnung, dass es jetzt noch nicht gebraucht wird…“
Auf die kleine Neugier, die durch ihre Worte schimmerte, sprang der Bote sogleich an:
„Das hoffen wir doch alle, die, die davon wissen. Mehr dürfen es auch nicht wissen, du weißt ob deiner Pflicht zur Verschwiegenheit! Wann, schätzt du, kann ich das Tuch wieder abholen? Ich will gleich zum Palast weiter, um die Nachricht zu übermitteln.“
„Komm, wenn die Sonne am höchsten steht“, sagte Chay, nahm ihm das Kästchen ab und ging hinter ihr Haus zum Unterstand, wo sie ihre beiden Webarbeiten abgedeckt hatte: Zwei Tücher, ein kleineres und ein größeres…
Es war ein langer und beschwerlicher Aufstieg tags zuvor. Doch die Apu meinten es gut mit ihnen, denn das Wetter hatte gehalten. Die Wolken auf der Rückseite des Berges, von wo der Aufstieg nur möglich war, waren bedrohlich dicht. Die Feuchtigkeit machte das Tragen der goldenen Sänfte des höchsten Opfers für den Sonnengott sehr anstrengend. Der Pfad war kaum zu erkennen, aber ihr Führer kannte sich aus, bei Tag, bei Nacht, bei jedem Wetter. Sie waren schon seit fünf Tagen unterwegs zu diesem Ort, der ein von den Schamanen für diese Zeremonie auserwählter Ort war. Zwei weitere Opferungen waren bereits zu früheren Zeiten hier oben durchgeführt worden, erfolgreich. In beiden anderen Fällen waren es auch Mädchen gewesen, die hier am Hang, kurz unter der Spitze, in einer kleinen Höhle mit der Öffnung nach Osten bestattet worden waren.
Beim ersten Mal war es der kaum enden wollende verheerende große Sturm gewesen, der an der Küste gewütet hatte und bis in die Berge zu kommen drohte. Viele Menschen hatten ihre Häuser verlassen und an einem anderen Ort wieder neu anfangen müssen, wenn sie überlebt hatten. Dort, wo der große Sturm einmal alles genommen und die Häuser unter Schlamm und Sand begraben hatte, da sollte man nicht noch einmal siedeln. Das wäre, als würde man die Knochen eines in der Erde bestatteten Toten wieder ausgraben und versuchen, diese zu ihrem alten Leben wieder zurückzuholen. Begraben war begraben und so, wie eine Seele sich dann einen neuen Körper suchen konnte, suchten sich auch die Menschen einen neuen Ort. Nur die mumifizierten Ahnen konnte man in Notzeiten hervorholen, sie neu ankleiden, sie verköstigen und sie um ihren Rat und Beistand bitten.
Alle Riten zur Abwendung des Unheils hatten versagt. Nun blieb allein die letzte aller Möglichkeiten, das Opfer eines Kindes.
Ein reines, vollkommenes Mädchen war geopfert worden, damit Vater Inti, der Sonnengott, wieder zu seiner vollen Kraft kommen würde, um den Sturm und all das Wasser hinweg zu nehmen.
Heil und Unheil, Leben und Tod, das wurde alles von den Göttern bestimmt. Und es war besser, sich ihrem Willen zu fügen.
Vor zwei Jahren hatte es dann eine Zeit der Dürre gegeben, die zeitlich weit über die Kräfte und Essensvorräte der Menschen gereicht hatte. Dank der Essensarsenale, in die alle gemeinsam ihre Erträge eingebracht hatten, damit auch alle gemeinsam die Notzeiten überstehen konnten, konnte diese Dürrezeit sehr lange überstanden werden. Doch dann war selbst dieser üppige Vorrat zu Neige gegangen und der Regen war immer noch nicht in Sicht gewesen. Die Wolken waren auf der Rückseite der Berge hängengeblieben und die Quellen, die die Bewässerungsanlagen um Dörfer und Städte gespeist hatten, hatten nach und nach alle den Fluss dieses lebenswichtigen Wassers eingestellt. Zur Dürre waren dann noch die große Sorge vor eventuell kommenden zu starken Regenfällen gekommen, die die Erde in kürzester Zeit in Schlammlawinen hätte verwandeln können.
So hatten sie, wieder zu einer Zeit allergrößter Not, ein reines Mädchen geopfert, um den Sonnengott gütig zu stimmen, damit er etwas von seiner großen Kraft zurücknehmen würde, um den Wolken den Weg zur Küste wieder zu ermöglichen.
Beide Male hatten die Schamanen nach langen Orakelbefragungen und nachdem alle anderen Riten bereits erfolglos vollzogen waren, dieses letzte Mittel als einzige Hoffnung zur Wende ermittelt und – mit Erfolg.
In solch einer hoffnungslosen Situation befanden sich die Inka jetzt wie-der. Die Menschen waren zum Teil durch die lange Trockenzeit sehr geschwächt. Das allein wäre noch kein Grund gewesen, ein Kind zu opfern. Es waren noch nicht alle Vorräte aufgebraucht und einige wenige Quellen brachten noch Trinkwasser hinunter in Dörfer und Städte. Aber dieses Mal war noch etwas viel Schlimmeres dazugekommen. Etwas, das selbst vor den alten Heilern, Schamanen und Priestern nicht Halt machte.
Es war ein Fleckenfieber, das die meisten Menschen nach ein paar Tagen schlimmer Krankheit elend dahinraffte. Fieberschübe, Schüttelfröste, starke Kreuzschmerzen, Halsinfekte, so begann es. Dann, nach fünf Tagen etwa, ging das Fieber zurück und man hoffte. Doch meistens vergeblich. Denn am gleichen Tag noch stieg das Fieber wieder und schlagartig kamen die Hautveränderungen dazu. Erst sah man überall nur Flecken, die sich erhöhten und kleine Bläschen bildeten sich. Die wurden dann mit einem Mal alle eitrig. Zu diesem Zeitpunkt war es für die meisten schon zu spät. Fast jede Stelle des Körpers wurde davon befallen, am schlimmsten Hände, Füße und das Gesicht, dann am Körper. Nicht unter den Armen und den Knien. Überall eitrige Pusteln, die einen furchtbaren Geruch absonderten.
Manche hatten Glück… Was sie von den anderen unterschied, das wusste kein Heiler, kein Schamane, kein Priester. Alle waren vollkommen ratlos. Kein Kraut half, keine Beschwörung, kein Opfer, kein Gebet. Der Große Inka selbst hatte viel Gold geopfert, an allen Opferstätten des Landes. Tag und Nacht brannten Opferfeuer, um diese elende Krankheit von dem Volk der Inka abzuwenden. Die Menschen, die gesund waren, ehrten die Götter und alle Wak’as. Bei manchen verkrusteten diese Pusteln tatsächlich und sie wurden wieder gesund. Diese Krankheit erwischte sie kein zweites Mal, als seien sie für immer von ihr befreit. Einer von denen, die sie überlebt hatten, war aber seither blind. Das Fleckenfieber war eine sehr schwere Krankheit mit sehr schweren Energien.
Bei den meisten halfen nur Kräuter, die Schmerzen und Angst nahmen, und die Vorsorge mit genügend Reiseproviant für den Kondor für den Flug in die Unterwelt, um vielleicht irgendwann in den Körper eines gesunden kommenden Familienmitglieds zurückzukommen.
Das vollkommen reine Mädchen hatte schon den ganzen Aufstieg über geschlafen. Sie hatte Kräutermittel bekommen, die sie schon in den Zustand des Übergangs versetzten. Sie würde jetzt nicht mehr aufwachen und langsam schlafend hinübergeleiten. Die Höhle war bereits vorbereitet worden. Ein Schamane, ein Priester und eine Priesterin des Sonnengottes hatten zuvor, seit der Festlegung von Ort und Zeitpunkt hier auf dem Berg, diesen Moment mit Helfern vorbereitet. Alles musste gut verlaufen, damit der Sonnengott das höchste Opfer mit seinen ersten Sonnenstrahlen annehmen und zu sich nehmen würde.
Damit der Sonnengott alle seine Kinder, den Großen Inka, seine Familie und sein ganzes Volk von diesem furchtbaren Unglück befreien würde.
Damit er ihnen helfen würde in ihrer Not.
Speisen hatten sie zubereiten lassen von einer auserwählten Frau. Diese standen bereits in der Höhle, zusammen mit Aqha, dem Maisbier, Blüten, besonderen Kräutern, heiligen Meeresmuscheln, vielen Opfergaben in Gold und Silber, sowie Kokablättern. In der Mitte dieses Raumes hatten sie ein Lager für das Mädchen errichtet, das dem Bett einer Prinzessin glich.
Die Höhle war fast verschlossen und zu den beiden anderen Opferhöhlen mit einer Mauer abgegrenzt.
Das Mädchen war die kleine Illianar, die Tochter von Rusuran, dem Bauern. Wie konnte das Mädchen eines Bauern zu solch einer herausragenden Rolle für ihr Land kommen?
Rusuran war zwar Bauer, doch seit einem Jahr hatte er hauptsächlich im Dienst des Großen Inka arbeiten müssen. Er hatte Schulden und seinen Teil an Abgaben nicht leisten können, daher stand er in der Schuld des Sapay Inka. Also wurde er beim Straßenbau eingesetzt. Das Straßennetz der Inka war mittlerweile ein sehr umfangreiches geworden. Das ganze Land, besonders in seiner großen Ausdehnung von Nord nach Süd, konnte auf diesem Weg schnell durchschritten werden. Außerdem richteten sie in regelmäßigen Abständen Raststätten ein. Zudem noch Wechselstellen für die Botenläufer des Sapay Inka, deren Posten in den kleinen Steinhäusern auch das ganze Land durchzogen und Tag wie Nacht besetzt waren. Außerdem lagen an den Straßen noch die Vorratshäuser, damit das Füllen und die Verteilung von dort gut und schnell organisiert werden konnten.
Dieses Netz – samt den Häusern – galt es stets weiter und noch besser auszubauen, über zahlreiche Brücken hinweg und durch Berge hindurch. Dafür arbeiteten zusätzlich eben diejenigen, die in Schulden wegen fehlender Abgaben standen oder auch Sklaven, die man von Eroberungsfeldzügen mitgebracht hatte. Sie wurden aber gerecht vom Gemeingut der Inka versorgt, das in den vielen Vorratslagern aufbewahrt wurde, die wiederum von den Bauern als ihren Anteil an der Gemeinschaftsarbeit aufgefüllt wurden.
Im ganzen Land wurde dafür gesorgt, dass die Inka, die Kinder der Sonne, nicht Hunger leiden mussten. Es wurde gleichermaßen auch darauf geachtet, bei aller Freizügigkeit, dass keine maßlose Völlerei stattfand. Dies wurde hart bestraft. Es galt als Diebstahl am Gemeingut.
Rusuran war nun ein sehr ehrgeiziger Mann, der es sich in den Kopf gesetzt hatte, aus dieser Schuldarbeit herauszukommen und ein angesehener Mann zu werden. Er hatte außerdem nicht überwunden, dass sein Vater alles Hab und Gut seiner Tochter vermacht hatte, die die Frau des benachbarten Bauern geworden war, und nicht ihm. Er hatte viele Ideen, zum einen dachte er durch sein Flötenspiel auf den unterschiedlichsten Flöten Aufmerksamkeit in Qusqu zu erlangen oder vielleicht sogar als Quipu-Bewahrer zu arbeiten. Er arbeitete derzeit mit einem ehemaligen Quipu-Bewahrer zusammen, der aus irgendwelchen Gründen zu dieser Strafarbeit gekommen war. Dieser erklärte ihm, was es mit der Knotentechnik auf sich hatte und wie gezählt wurde. Er war ein Meister der Zahlen. Das wäre genau das Richtige für ihn. Außerdem hatte er ein außerordentlich gutes Gedächtnis, was er stetig trainierte. Quipu-Bewahrer, das strebte er in seinen Träumen an.
In diesen ewigen Gedanken um Anerkennung beobachtete er genau im richtigen Moment, wie Beamte des Sapay Inka aus Qusqu durch ihren Ort schritten, um nach vollkommenen Mädchen zu suchen, die die Ehre haben sollten, nach einigen Jahren Unterricht in den Dienst als Jungfrau des Sonnengottes zu kommen und als Priesterin im Sonnentempel zu dienen.
Viele der Mädchen wünschten sich diesen Dienst.
Rusuran sah die Beamten, sah seine Tochter an, die gerade missmutig versuchte zu weben. Sie wollte eigentlich lieber mit den Tieren arbeiten. Sie war ein äußerst temperamentvolles Mädchen. Das erste, das sie gewebt hatte, war ein leuchtend blaues Stirnband. Ohne Muster. Wenn sie weiter weben sollte, dann wollte sie auch immer unbedingt blaue Wolle verweben, was nicht immer ging, denn die blaue Wolle war nicht immer vorrätig. Illianar war wie ein kleines wildes Llama. Ihre krausen schwarzen Löckchen wurden von dem blauen Stirnband gebändigt, so wie ihre Mutter es mit dem Webrahmen bei ihr versuchte.
Ja, er sah seine Tochter und ging kurz entschlossen zu den Beamten, pries ihnen seine wunderschöne, vollkommene Tochter, brachte sie dazu, mitzukommen und seine Tochter anzusehen. Als Illianar sah, dass dies hohe Herren aus Qusqu waren, benahm sie sich auf einmal sanft und ruhig. Innerlich aber war sie wie versteinert, denn sie spürte, dass irgendetwas passieren würde, konnte es aber noch nicht einordnen. Sie wusste daher auch nicht, ob sie dagegen sein sollte oder nicht. Sie spürte auch, dass sie, egal wie, keine Chance hatte auf eine eigene Entscheidung. Ihr Vater hatte einen unabwendbaren Weg für sie eingeleitet.
Die Herren Beamten sahen sie und tauschten ein paar unverständliche Worte aus.
„Du weißt, wenn du deine Tochter dem Sonnengott schenkst, dann wirst auch du dafür belohnt werden.“ Rusuran nickte. „Deine Schulden können von dir genommen werden und du wirst weitere Anerkennungen erhalten, wenn sie sich in der Lehrzeit für Priesterinnen gut einfügt, dem Sonnengott gefällt und von ihm übernommen wird.“ Rusuran nickte. Er wagte es nicht, weder seine Frau noch seine Tochter anzusehen. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals. Illianar verfolgte atemlos das Geschehen.
„Mädchen, wie ist dein Name?“, fragte der eine hohe Herr aus Qusqu freundlich und beugte sich zu Illianar.
„Illianar ist mein Name“, antwortete ihre Stimme ebenso freundlich.
„Möchtest du mit uns nach Qusqu kommen, um zu den 500 Jungfrauen zu gehören, die auserwählt sind, um unserem großen Vater Sonne Inti zu dienen?“, fragte er weiter und sah ihr dabei direkt in die Augen. Sie widerstand diesem prüfenden Blick und antwortete:
„Ja.“ Dann blickte sie zu Boden.
„Dann werden wir dich gleich mitnehmen, denn wir gehen heute noch zurück. Der Große Inka wird sich darüber sehr freuen, denn er ist der Sohn des großen Gottes der Sonne. Wir sind sicher, dass du bald zu den heiligen Jungfrauen und Dienerinnen des Sonnengottes zählen wirst. Das darf dich mit Stolz erfüllen, doch Bescheidenheit wird deine Schönheit für den Gott noch wertvoller machen.“ Sie nickte.
„Möchtest du noch etwas mitnehmen? Oder noch etwas sagen?“
„Nein.“ Sie blickte weiter zu Boden. Die beiden hohen Herren aus Qusqu nahmen sie bei der Hand in ihre Mitte, und sie gingen davon. Das war das letzte, was sie von ihren Eltern gesehen hatte. Sie hatte nicht gesehen, wie sehr ihre Mutter geweint hatte vor Traurigkeit um ihre fehlende Tochter. Sie hatte nicht gesehen, dass ihr Vater geweint hatte, vor Erleichterung und Freude. Doch das genau war es, was sie die ganze Zeit gespürt hatte. Deswegen wollte sie weggehen. Ihr Vater hatte sie verkauft, und zwar für seinen eigenen Vorteil. Ein Opfer zu sein für den Sonnengott, das war eine große Ehre, aber von seinem eigenen Vater geopfert worden zu sein, das war für sie unerträglich. Das würde sie ihm nicht verzeihen können.
Wahrscheinlich hätte sie sowieso keine Wahl gehabt, denn wenn die hohen Beamten eine Entscheidung getroffen hatten, dann gab es keinen Widerspruch. Aber wäre er nicht zu den hohen Beamten gegangen, dann hätten sie in ihrem Haus nur ein kleines wildes Llama gesehen, aber kein sanftes Mädchen und hätten ihre Suche sicher fortsetzen müssen.
Sie hatte sich aber schnell an das neue Leben im Haus für die Sonnenmädchen gewöhnt. Der Umgang untereinander war sehr liebevoll unter den Priesterinnen und ihren vielen Schülerinnen. Ihre Mutter wäre stolz auf sie gewesen, denn sie war eine geschickte Weberin und Spinnerin geworden. Schöne Tänze hatte sie gelernt, schöne Lieder und auch das Flötespielen. Sie stellten mittlerweile zusammen das Maisbier her und überhaupt sämtliche Speisen und Getränke für die großen Feste.
Ihr Vater hätte sich über ihre Begabungen gewundert. Der würde nun mittlerweile sicher seinen Träumen nachgehen können. Und jetzt erst recht, denn dass sie als Opfer auserwählt wurde, würde natürlich auch ihm zugutekommen. Er würde noch mehr Ansehen erhalten. So hatte das alles doch etwas Gutes bewirkt. Vielleicht konnte sie den Sonnengott dazu bewegen, dem ganzen Volk der Inka zu helfen, damit diese furchtbare Krankheit von ihnen ginge. Sie hatte gesehen, wie auch ihre liebgewonnenen Freundinnen im Sonnentempel furchtbar litten, furchtbar aussahen und furchtbar sterben mussten. Wahrscheinlich würde sie sowieso auch bald auf diese furchtbare Weise sterben, dann war diese Wahl wahrhaftig ein heiliger sanfter Übergang zu dem hohen Gott der Sonne. Die Einzige, die ihr immerzu fehlte, war ihre Mutter.
Da die Höhle über einen Pfad nicht zu erreichen war, musste sie von oben abgeseilt werden. Das letzte Ritual über der Höhle, das die ganze Nacht über angedauert hatte, war jetzt abgeschlossen. Der östliche Himmel wurde langsam hell und Vater Inti kündigte sein Erscheinen an. Das Mädchen schlief tief, ihr Herzschlag war sehr langsam und nur noch schwach zu spüren. Sie würde nicht mehr aufwachen.
Der Schamane nickte und die Priesterin gab das Zeichen, das Mädchen in ihre Decke einzuhüllen und festzubinden. Mit einer Geste Richtung aufgehende Sonne segnete sie das Mädchen. Gleichzeitig wurden ein priesterlicher Helfer und der Priester mit ihr in den Armen an Seilen das kurze Stück zur Höhle hinabgelassen. Der Helfer stieg in die Höhle und zog das heilige Mädchen hinüber. Er band das Seil von ihr ab und ließ sich und das leere Seil wieder hinaufziehen. Der Priester legte sie in die endgültige Position und vollzog nun den letzten Ritus des Verschließens dieser Höhle, die, bis auf ein kleines Fenster, von außen kaum zu erkennen war. Durch dieses Fenster würde der erste Sonnenstrahl auf das Mädchen treffen, auf ihr Gesicht und ihr leuchtend blaues Stirnband, und der große Gott der Inka würde sie in seine Arme nehmen.
„Yaya, Großer Sapay Inka, bitte, kann ich Musik hören?“, kam eine schwache Stimme von hinter dem Vorhang. Das Feuer war zu einer kleinen Nachtflamme heruntergebrannt und das Bett des Sohnes des Sohnes der Sonne lag in einem zarten Licht gehüllt. Doch unverkennbar war sein mit Pusteln übersätes Gesicht, als der Große Sapay Inka hinter den Vorhang zu seinem schwerkranken Sohn ging. Unverkennbar seine umwickelten Hände, Arme, der Oberkörper. Die Beine waren durch eine Decke verhüllt. Der Große Inka hatte die ganze Nacht über gewacht, hatte Riten in dem großen Raum abgehalten, von dem Hohepriester, seinem Bruder, begleitet, um die unheilvolle Krankheit von seinem Sohn, dem künftigen Sapay Inka des großen Reiches Tawantinsuyu, dem Reich der Vier Himmelsrichtungen, abzuwenden.
Der jetzige Sapay Inka Kimra Wayna Qhapaq ließ sich seine tiefe Erschütterung nicht anmerken und beugte sich zu seinem Sohn:
„Ich wünsche dem Sohn des Sohnes der Sonne ein gutes Leben, gute Gesundheit, Frieden und möge dein Leben im Gleichgewicht sein. Sumaq kawsay, mein geliebter Sohn! Du hast einen weiteren Tag geschafft! Du bist stark! Wer wären wir Inka, wenn wir nicht kämpfen würden? Die Kraft der Sonne liegt seit Generationen in unserem Blut und wurde stärker vom Vater zum Sohne und zur Tochter. Ihr beide werdet stärker sein wiederum als meine Schwester und ich, denn das Reich der Tawantinsuyu ist groß geworden seit meines Großvaters Herrschaft, größer seit meines Vaters Herrschaft und war noch nie so groß wie jetzt zu meiner Herrschaft. Dir, mein Sohn Kir Ninan Quyochi, obliegt eine noch größere Aufgabe. Du wirst Tawantinsuyu festigen und…“
„Yaya, ich habe Durst… Und… Flötenspiel möchte ich hören… Und dann, großer Yaya, Großer Inka, kannst du mir dann von unseren Vorfahren erzählen?“, unterbrach er den Redefluss seines Vaters mit schwacher Stimme. Unter anderen Umständen wäre dies absolut unmöglich gewesen. Auch als Sohn durfte niemand die Rede des höchsten Inka unterbrechen! Doch in seinem erbärmlichen Zustand merkte der junge Prinz nicht, dass er den Großen Inka nach den geltenden Regeln beleidigt hatte. Sein Vater hatte sich seit den letzten zwei Tagen völlig anders ihm gegenüber gezeigt, ganz anders, als er den großen Herrscher sonst kannte. Er war ihm mit einem Mal ganz nah, als gäbe es keine Regeln mehr zwischen ihnen außer Vater und Sohn, Lehrer und Schüler. Er war bei ihm geblieben. Ein Mann, der höchste überhaupt, blieb bei seinem Sohn am Krankenbett, wo ein ganzes Reich wartete, das seiner Führung bedurfte! Doch der Sapay Inka sagte, es wäre alles organisiert und das glaubte er ihm, denn ein Großer Inka besaß das große Talent des Organisierens. So manches schien er auch aus diesem Zimmer zu organisieren, während sein Sohn schlief.
„Wir brauchen Wasser und den Heiler – rasch – hier!“, rief Inka Kimra Wayna Qhapaq. Mit hier war eindeutig gemeint, dass diese Person sich hinter den großen Vorhang begeben durfte, der den Bereich des Bettes vom Rest des großen Raumes abtrennte.
„Inti zeigt seine ersten Strahlen des Tages, unverhüllt und schön. Hier, starker Sohn unseres Sapay Inka, trink dies zuerst. Es ist sehr bitter, aber es wird dir helfen“, sagte mit sanfter Stimme der ältere Qallawaya-Heiler und trat neben das Bett des Jungen. Er gehörte zu den wenigen, die auch ohne Ankündigung direkt an den kranken Sohn herantreten durften, ohne die sonst üblichen langen Formalitäten einzuhalten.
Er rief eine Helferin und wies sie an, den Oberkörper des Jun-gen etwas anzuheben. Er führte den Becher mit dem starken Trunk an dessen Mund. Trotz des mit eitrigen Pusteln übersäten Gesichtes verzog er bei dem Geschmack des Getränkes den Mund. Der Arzt war hartnäckig und wartete geduldig, bis er die Medizin ausgetrunken hatte.
„Was ist da alles drin? Es schmeckt nach einem scheußlichen Gebräu aus der Unterwelt Ukhu Pacha mit allem, was es so unter der Erde zu finden gibt an Wurzeln, Käfern und Maden.“
Der Heiler lächelte:
„Deine Reaktion verrät mir, dass die Kraft in deinem Körper zurückkommt. Das ist gut so. Nimm es so hin und lass die leichten Energien arbeiten.
Wir werden die Binden wechseln und ich werde dir eine neue Salbe auf-tragen, die den Eiter aus den Pusteln ziehen soll. Die Medizin wird dir Fieber und Schmerzen nehmen. Gleich habe ich noch einen Schluck K'atú für dich, und alles wird dann viel angenehmer und schöner sein.“
Er blickte zu dem Großen Inka, zum Zeichen, dass er jetzt mit seiner Behandlung begann. Dieser stand auf und sagte:
„Ich werde mich um Musik kümmern und bin gleich wieder hier. Mein Bruder, der Inka Malluk, kann in der Zeit meinen Platz einnehmen“, nickte dem Arzt zu und ging hinaus. Der Hohepriester erschien hinter dem Vorhang mit einer weiteren Helferin. Indes kümmerte sich der Qallawaya-Heiler zusammen mit der Helferin um den Kranken. Die neue Helferin begann mit der Räucherung von neuen Kräutern. Der Junge hielt die Augen geschlossen und ließ sie an sich arbeiten. Binde für Binde wurde abgewickelt, die Stelle gewaschen, was zu waschen ging, gereinigt, was zu reinigen ging, eingesalbt und wieder mit frischen Binden umwickelt. Der Priester begleitete die Prozedur mit gesungenen Beschwörungen. Auch der Heiler selbst gab beim neuen Anlegen der Binden Worte aus der geheimen Sprache der Qallawaya-Heiler mit hinein unter die frischen Binden. Dieser monotone Singsang und die fremden Worte brachten eine Art Frieden in den jungen kranken Körper.
Er hielt die Augen noch geschlossen, als die Heilungszeremonie leise ausklang und sein Vater zurückkam. Dieser wartete einen Augenblick ab, da der Heiler gerade daran arbeitete, die Energien seines Sohnes wieder zu stärken, besonders seinen Energiegürtel, der durch die Krankheit wohl besonders angegriffen war. Der Energiegürtel war lebenswichtig. Als der Heiler fertig war, sah er auf und blickte den zurückgekehrten Großen Inka kurz mit einem Zeichen an, dass er ihn noch zu sprechen wünschte.
„Ich habe dir eine junge Musikerin mitgebracht, großer Sohn des Sohnes des Sonnengottes“, sprach sein Vater in einem fast mürrischen Tonfall, ohne darauf zu achten, dass sein Sohn seinen frisch verbundenen Zustand genoss, dank der Wirkung der Medizin. Wahrscheinlich war sein Vater entrüstet darüber, dass der Musiker, den er ursprünglich erwartet hatte, nicht erschienen war.
„Ein Mädchen, das ist schön“, sagte der Sohn des Sapay Inka schlaftrunken und öffnete seine verquollenen Augen zu kleinen Schlitzen. Ein Lächeln zog sich über das Pustelgesicht. Als sein Vater das sah, wurde er entspannter.
„Sie ist Salana, die Tochter unseres besten Flötenspielers. Ihr Vater ist an der gleichen Krankheit erkrankt wie du und kann daher nicht kommen, um uns mit seiner großen Kunst zu erfreuen. Sie hat ihren ältesten Bruder auch schon verloren, aber ihre älteste Schwester hat diese Krankheit überwunden. Sie trägt nun Narben in ihrem hübschen Gesicht, aber sie lebt und fühlt sich wieder gut. Du siehst, die Krankheit kann überwunden werden, selbst von Menschen aus dem Volk. Ihre Mutter und sie hat es nicht erwischt. Sie hat sofort ihre Hilfe angeboten, denn sie sagt, ihr Vater hätte ihr sein Können vermacht. Sie könne fast so gefühlvoll wie er die unterschiedlichsten Flöten spielen.
So setz dich dort an die Seite, hübsche Salana, und spiele für unseren kranken kommenden Großen Inka.“
Das einfach gekleidete schlanke Mädchen mit den schulterlangen zum Zopf gebundenen Haaren hielt einen angemessenen Abstand zu den hohen Herren der Inka, ihren Blick zu Boden gerichtet. Sie antwortete ohne Worte mit einem kurzen Nicken, das in eine Art Kopfwiegen überging und ging an die besagte Stelle. Dort holte sie eine kleine Rohrflöte hervor und begann mit zarten Tönen.
Der Hohepriester, der auch einen unguten Eindruckt machte, und die Helferinnen hatten sich schon zurückgezogen. Der Qallawaya-Heiler wartete hinter dem Vorhang auf den Sapay Inka.
„Ich habe all meine Kenntnisse an dem jungen Thronfolger angewandt. Ich will ehrlich sein, auch wenn es mein Leben kostet.“ Er machte eine kleine Pause.
„Natürlich werde ich dich nicht bestrafen. Bei dieser Lage unseres Landes brauchen wir jeden Heiler und erst recht die hohen und von mir sehr geschätzten Heiler von Qallawaya. Ohne dich und deinesgleichen wäre ich jetzt schon nicht mehr am Leben. Ich habe euch viele Leben der Kinder der Sonne zu verdanken. Ich weiß selbst, wenn es von den Göttern nicht gewollt ist, dass ein Leben fortgeführt werden soll, dann versagen sie jegliche Unterstützung, selbst dem von ihnen begnadeten Heilkünstler. Da trifft dein Können keine Schuld. Nun sprich die Wahrheit. Wie steht es um unseren großen Sohn?“
„Die Wahrheit ist, es steht sehr schlecht um ihn. Ihm bleibt nicht mehr viel Zeit auf der Erde. Du hast gut daran getan, das heilige Totentuch anfertigen zu lassen. Das Einzige, das mir heute blieb zu tun, war, seine Schmerzen zu lindern und seinen Gemütszustand zu heben. Dieser Ausschlag frisst ihn auf, es tut mir so leid! Es ist schlimm für unser Land! Es ist eine schlimme Zeit! Keiner von uns Heilern hat jemals Derartiges erlebt. Wir sind mit unserem Wissen und Können an unseren Grenzen, die wir bis vor kurzem noch nicht in diesem Umfang kennengelernt haben.
Wie du schon gesagt hast, es ist eine höhere Kraft, die hier im Spiel ist, die mächtiger ist als jede Medizin, als jede Behandlung, als jedes Opfer und jedes Gebet. Es tut mir aufrichtig leid! Ich komme morgen früh wieder, wenn du es wünschst. Wann immer du wünschst, komme ich. Die Musik tut ihm gut, es lenkt ihn ab. Das Mädchen trifft genau die richtigen Töne für seine Seele. Die Musik, das Mädchen, sein heiliger Vater an seiner Seite, das tut ihm gut. Er darf alles, was ihm guttut. Er ist ein überaus tapferer großer Sohn des Sohnes unseres Großen Vaters Tayta Inti. Er trägt sein Los mit so viel Würde! Ich senke mein Haupt vor diesem höchsten Jungen der Inka!“ Er senkte seinen Kopf.
„Danke. Ich lass dich rufen. Spätestens morgen früh.“
Tief erschüttert und ebenso irritiert sah der Große Inka dem Heiler hinterher. Auch er befand sich anscheinend nicht bei bester Gesundheit. Schweißperlen standen eben auf dessen Stirn, ähnlich, wie es ihm selbst soeben kurz ergangen war, ähnlich, wie es mit seinem Sohn angefangen hatte…
„Sie ist barfuß! Sie hat noch keinen Mann“, sagte der junge Inka-Sohn, als sein Vater sich wieder zu ihm setzte.
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