Leseprobe aus

saat und ernte . Band 2

1. Auflage 2025

Text: Copyright ©Aina Koregard, www.ainakoregard.de

Verlag: BoD · Books on Demand GmbH,

Überseering 33, 22297 Hamburg, bod@bod.de

Druck: Libri Plureos GmbH, Friedensallee 273, 22763 Hamburg

Covergestaltung ©Aina Koregard

unter Verwendung des Kunstwerks „Monde“, www.lunartis.de

ISBN: 9783819297557 

 

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Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird zumeist auf die gleichzeitige Verwendung der Sprachformen männlich, weiblich und divers verzichtet. Sämtliche Personenbezeichnungen gelten gleichermaßen für alle Geschlechter. 

Im Anhang befinden sich Angaben zu den einzelnen Rollen der Protagonisten je Zeitfenster, Quellenangaben aus Büchern und dem Internet sowie Fußnoten.

 

 

LESEPROBE Seite 7-56... (von 632 Seiten):

 

 

Sechstes Zeitfenster . Kostbares Schneejuwel

 

Die beiden Ältesten Tanobakt und Elieanor, Ushlaran und sogar Aleyna und Burgon hatten es sich nicht nehmen lassen, heute den besonderen Tag zu solch früher Stunde schon gemeinsam mit allen am Strand zu beginnen. Jaskula als Lehrmeister war mit den Tiro im Transportkäfer angereist. Allein Gimra hatte noch einen Termin und wollte dann direkt zur Versammlungshalle kommen.

 

Der Bogenfels, bizarr, ohne scharfe Kanten, seit Jahrtausenden vom Was-ser geformt und geschliffen, ragte, eine Brücke bildend, bis ins Meer hinunter, um dort in eine Säule überzugehen, die in der Tiefe fest mit dem Felsen am Meeresboden verankert war. Ideal zum Springen und Tauchen, ideal für die ungestümen lebenshungrigen Jugendlichen von Cambolia.

 

Es ist das Jahr 2162.

 

Angefeuert zu einem ersten Sprung wurden die acht Jugendlichen von der gleichen Anzahl an Delfinen, die rückwärts stehend, rückwärts tanzend, auf ihren Schwanzflossen wellenritten und dabei laut pfiffen und zwitscherten.

 

Die Mädchen und Jungen waren aufgeregt, kicherten und diskutierten lange hin und her, wer denn nun beginnen sollte. Es waren vier Tiro aus Rosurans Lehreinheit und vier aus Kyrs und Hanaskeas Lehreinheit, die sich gleich am frühen Morgen hier getroffen hatten. Endlich hatte das Wetter, nach langer ungemütlicher Zeit mit Sturm und Starkregen, ein Einsehen und zeigte sich von seiner sonnigen Seite. Da heute auch Zeitfenster-Tag war, begannen sie gleich zu Sonnenaufgang. Nicht alle Tiro mochten Sprünge von den Felsen, auch wenn sich jeder seine Höhe aus-suchen konnte. Es sollte in fünf Wochen ein Wettkampf mit anderen HdWs stattfinden und so waren es die besten, die sich hier für ein frühes Extra-Training trafen. Zwei Mädchen sprangen synchron ohne viel Aufhebens mit akkuraten Kopfsprüngen von der höchsten Stelle. Sie wurden sofort von zwei Delfinen begrüßt, die Freudentänze um sie herum aufführten. In dieser Bucht trieben sich oft Delfine herum. Durch das viele Training schon seit fünf, sechs Jahren hatten sich die neugierigsten Delfine mit den Jugendlichen angefreundet. Jede oder jeder hatte sogar eine beste Freundin oder Freund unter den Delfinen. Man konnte fast sagen, dass die Charaktere sich ähnelten.

 

Jetzt war Kyr an der Reihe und alle fünf Wartenden setzten sich. Die beiden Mädchen im Wasser hielten sich entspannt an den Rückenflossen der Delfine fest. Sie wussten nämlich, dass Kyr zu gern eine kleine Aufführung darbot. Sie warteten gespannt.

 

Kyr holte tief Luft – um – sich singend einzustimmen. Ein wunderschöner Gesang erklang. Da passiert es:

 

Das Wasser schien sich augenblicklich zu beruhigen; die Wasseroberfläche glich einer Samtdecke. Der Morgenhimmel spiegelte sich darin, mitsamt Kyr, wie er auf dem Felsvorsprung stand. Er sang, und noch während er weiter sang, sprang er ab, sang, glitt durch die Luft, sang und tauchte ein. Genau in diesem Augenblick übernahm sein Delfin den Gesang. Als Kyr wieder auftauchte, beendete dieser den Gesang mit einem großen Finale. Gänsehaut pur. Alle waren ergriffen von diesem Auftritt. Er hatte sie in kürzester Zeit mit seiner magischen Stimme verzaubert… Wohl auch das Wasser.

 

Alle sprangen auf und jubelten begeistert..

 

„Wow!“, „Wunderbar!“, „Das war unglaublich schön, Kyr!“

 

Rosuran war an der Reihe. Seine athletische Statur war nun deutlich zu erkennen, ein Sportler durch und durch. Es gab wohl keine Disziplin, die er nicht mochte. Er stellte sich auf, besann sich einen Moment. Dann ging er in seinem typisch leicht federnden Gang bis zum Felsvorsprung, drehte sich um und zählte Schritte wieder zurück. Er drehte sich wieder und nickte. Er war offenbar an der richtigen Position. Er nahm Anlauf, ging in den Handstand am Felsvorsprung, drückte sich mit den Händen ab, und schraubte sich in einem hohen Bogen hoch und tauchte nahezu geräuschlos ab. Ein Delfin schoss neben ihm aus dem Wasser, drehte sich ohne Ende auf seiner Schwanzflosse, tauchte ab und schoss wieder hervor, hoch hinaus und schraubte sich in einem hohen Bogen neben Rosuran nahezu geräuschlos ins Wasser.

 

Die beiden klatschten ab und alle riefen:

 

„Bravo! Genial! Spitzenklasse!“

 

„Das hat er ganz klar von mir“, kommentierte Burgon.

 

„Ja, ja“, kommentierte Aleyna mit einem Augenrollen.

 

„Weißt du nicht mehr, wie ich den legendären Adlerflug vom Bogenfelsen hinunter machte? So weit ist bisher kein anderer geflogen. Aber Rosuran hat die richtigen Gene und könnte…“

 

„Ganz genau, könnte, wenn er wollte. Konntest du damals einen derartigen Sprung aus dem Handstand in die Schraube? Ich glaube, er schreibt seine eigene Legende“, lachte Aleyna.

 

„Ja, dein Adlerflug war wirklich legendär, Burgon“, lobte ihn Ushlaran und klopfte ihm auf die Schultern. Was Burgon schmeichelte. Aleyna verdrehte wieder ihre Augen:

 

„Sind klasse unsere Kinder.“

 

Die drei nächsten sprangen. Sie rannten einer hinter dem anderen los und sprangen in drei Richtungen nacheinander, jeder mit einem Salto und tauchten kopfüber ab. Prompt folgten drei Delfine mit einer ganzen Salve an Saltos. Großartig. Applaus.

 

Nun stand Hanaskea als letzte oben. Mit einem Eimer in der Hand.

 

„Was hat das mit dem Eimer auf sich?“, fragten sich wohl alle.

 

Man konnte ihr von Weitem ansehen, wie sehr sie sich jetzt freute, mit einer Überraschung zu trumpfen.

 

Sie ging bis zum Felsrand vor und stellte den Eimer ab. Nein, das hatte es bisher noch nie gegeben. Sie nahm Fische heraus. Sie nahm vier Fische mit der Schwanzflosse in die linke und fünf Fische in ihre rechte Hand. So stand sie, Arme entspannt nach unten. Sie pfiff und machte mit der rechten Hand samt Fische einen Bogen vor sich. Alle konnten beobachten wie alle acht Delfine sich in einem Halbkreis anordneten, etwas zurückschwammen und auf ein Zeichen warteten. Wieder ein Pfiff. Sie schwammen los, Hanaskea sprang hoch und warf im Flug erst die vier Fische aus der linken, danach sofort vier Fische aus der rechten Hand in die Luft. Die Delfine schossen aus dem Wasser und schnappten sich jeder einen Fisch. Mit dem letzten Fisch tauchte sie ins Wasser ein, tauchte wieder auf und warf in hoch über sich, wo ihr Delfin sich noch eine Zugabe ergatterte.

 

Alle waren hingerissen von diesem Schaustück. Welch eine Präzision und Verständigung mit den Delfinen.

 

Alle kamen nach den Darbietungen direkt aus dem Wasser. Heute gab es kein ausgelassenes Toben im Meer mit den Delfinen. Sie wussten, dass es noch ein langer Tag werden würde und die anderen fünf Tiro mussten zum Unterricht.

 

Das hatte Rosuran, Hanaskea und Kyr gutgetan. Sport war für alle immer ein perfekter Ausgleich. Und nach dem Bad im Meer waren sie erfrischt und munter, bereit für die sechste Rückreise.

 

Im Versammlungshaus begrüßte Jaskula sie vor gewohnter Stuhlanordnung im Halbkreis und deutete auf einen Berg in ihrer Mitte. Sie sahen den alles um sich herum überragenden schneebedeckten Berg erst nur von weitem aus dem All und kamen ihm langsam näher.

 

„Willkommen am heiligen Berg Kang Tise etwa 240 v.u.Z. Der Kang Tise ist heute bekannt unter dem Namen Kailash, was kostbares Schneejuwel bedeutet. Der Kang Tise ist der Mittelpunkt des alten Reiches Zhang Zhung, einem einst unabhängigen Land im Westen von Tibet. Die Gebirgskette des Kang Tise liegt inmitten des tibetischen Hochplateaus, des Transhimalaya. Mit seinen 6.638 Metern gehört er zu den kleineren Bergen im Himalaya, doch seine spirituelle Bedeutung überragt alle Gipfel der Erde.

 

Wunderbar, auf die Minute, da kommt er auch schon angeflogen. Darf ich vorstellen: Khyung, der legendäre große mythische Vogel. Ihr seht ganz richtig. Er hat einen Stierkopf. Er wird uns heute berichten.

 

Das sechste Zeitfenster ist geöffnet.“

 

 

 

Der riesige Khyung schwebte immer tiefer, umkreiste die Kristallspitze des heiligen Kang Tise und setzte sich auf einen eisigen Felsvorsprung, von wo aus er alles gut im Blick hatte, und kommentierte das Geschehen:

 

„Rauch sehe ich unten aufsteigen, mitten am Tag – ein Zeichen von bald eintreffenden Pilgern. Dort unten steht der südliche Herbergstempel mit Mauern aus übereinander gestapelten, flachen, großen Steinen und einem Dach aus Holzstangen mit darüber flach aufgeschichteten Steinen. Vor den kleinen Fenstern und vor den Türen hängen Decken von gewebtem Yakhaar als Schutz vor Wind und Kälte. Nördlich und südlich am Fuße des mächtigen und heiligen Berges Kang Tise stehen bescheidene Herbergstempel, die durch Anbauten im Laufe der Zeiten an Größe gewannen. Sie sind nah an einen Felsen gebaut, mit einem Felsen als schützende Rückwand oder als Verlängerung zu einer Höhle. Geplant ist der Bau von zwei weiteren Herbergen, so dass die Pilger bald in allen vier Himmelsrichtungen einen Unterschlupf finden können. An hohen Stangen vor den Herbergen haben die Pilger Stofffahnen angebunden, um Gesundheit, Glück und Wohlstand für sich und die Gemeinschaft zu sichern. Viele haben ihre Stofffähnchen mit ihrer Bitte um Unterstützung für einen sicheren Weg und ein gesundes und glückliches Leben oder sogar für einen geführten inneren Weg bis zur Offenbarung des Göttlichen besprochen.

 

Um die Götter, Geister und Dämonen von Zhang Zhung milde zu sti-men, hängen sie die Fähnchen in den Wind, auf dass die Windpferde sie in alle Richtungen verteilen und sie erhört werden, für ihren langen, anstrengenden und zum Teil sehr beschwerlichen inneren und äußeren Weg.

 

Der Bön-Priester[1], Bön-po Ushlaran, ein älterer, doch unter seinem dicken Mantelumhang muskulöser und kräftiger Mann mit kahlrasiertem Kopf unter seinem Hut, kümmert sich schon seit vielen Jahren um die Herbergstempel am heiligen Berg Kang Tise. Ebenso um die sieben kleinen Herbergen, die an den beiden Seen, dem Mapham Yutsho[2] und seiner Partnerin Lag-ngar-mtsho[3], zu Füßen des Kang Tise errichtet wurden. Sieben, da jeweils drei an den Ufern der heiligen Seen liegen und einer zwischen den beiden als Verbindung neben dem beide direkt verbindenden Kanal Ganga Chu. Es ist ein großes Gebiet, für das er Sorge trägt, doch mittlerweile leben fast in allen Herbergstempeln seine Schüler, die sich darum kümmern, dass die Hauptfeuerstelle niemals ausgeht, und dass auch mindestens eine Butterlampe ständig durch Nachfüllen von neuer Butter am Brennen gehalten wird.

 

Auch die beiden Seen werden von den Pilgern umrundet und reinigende Bäder in dem kristallklaren Wasser genommen. Die Kora, die Umrundung um die beiden Seen, führt um den auf der rechten Seite liegenden großen fast runden See Mapham Yutsho, dem See aus göttlichem Atem, in dem sie die Kraft der Sonne sehen, und danach um den auf der linken Seite liegenden halbrunden, dem Sichelmond gleichenden See Lag-ngar-mtsho, in dem sie folglich die Kraft des Mondes sehen. Dieser See soll später fast gemieden werden, habe ich gehört. Warum, das kann ich nicht erklären. Lag-ngar-mtsho ist zwar eindeutig kälter, denn er friert im Winter zu. Aber zu ihm strömt das Wasser des heiligen Kang Tise! Das Klima ist an seinen Ufern allgemein etwas rauer, doch ihn umgibt ein wunderschöner und tiefgründiger Reiz, eben der Reiz der Mondeskraft.

 

Mapham Yutsho friert nicht zu, da er heiße Quellen besitzt, was natürlich die Pilger sehr lieben. Oft sammeln sie an beiden Ufern heiligen Sand, goldenen und bunten Sand, der heilende Kräfte besitzt. Und sie sammeln Kräuter, die nur hier zu finden sind. Überglücklich sind Pilger, wenn sie einen versehentlich an Land gesprungenen, schon getrockneten Fisch finden, der mächtige heilende Kräfte besitzt und ein langes gesundes Leben schenkt.

 

Einst gehörten beide Seen zusammen, waren ein einziger wunderschöner See, dann schob sich langsam ein Hügel auf, der die beiden trennte. Sie sind überirdisch noch durch einen kleinen Flusslauf verbunden, der in manchen Jahren im Erdreich verschwindet, welches alle für ein schlechtes Omen halten. Folglich geschah dann immer etwas: Es fiel entweder zu wenig Regen oder es folgte Regen im Übermaß oder lang andauernde Kälte im Winter oder es gab Kämpfe und Streit um das umliegende Land. So beten die Pilger besonders an diesem Verbindungsfluss, an dem jene verbindende Herberge steht, natürlich mit einem Mast mit vielen Fähnchen.

 

Seit jeher kommen die Menschen von Zhang Zhung und so manch einer von entfernteren Landen aus allen Richtungen zu den beiden heiligen Bergen Kang Tise und Gurla Mandhata und zu den beiden Seen. Ihre heilige Kraft wird allerorts weitergetragen von denen, die einmal hier gewesen sind. Weitergetragen auch durch die Mythen, die man sich erzählt, die sich einst in diesen Regionen zugetragen haben. Gurla Mandhata ist die Partnerin des Kang Tise und liegt genau auf der anderen Seite der beiden Seen. Schon an ihren speziellen Formen kann man die beiden Berge erkennen: der eindeutig männlichen Form des Kang Tise und der weiten weiblichen Form des Gurla Mandhata. Um den Gurla Mandhata und seine beiden Herbergstempel kümmert sich eine ehemalige Schülerin des Bön-po Ushlaran, die jetzt ebenfalls Schüler in das alte heilige Wissen, das diesen Berg umgibt, einweist.

 

So fliege ich in meinem heiligen Reich umher, sehe nach dem Rechten und lausche hier und horche da. Es kommen Menschen aus den hohen Bergen des großen Schneelandes und von noch viel weiter her.

 

Für die Menschen aus Zhang Zhung ist es stets eine Bereicherung, die fremden Pilger und Händler anzutreffen und die anderen Gedanken zu hören. Hin und wieder findet sich etwas Interessantes, dass sie in ihrer eigenen Welt der Ideen noch unterbringen können. Es findet oft ein Verschmelzen in irgendeine Richtung statt und wenn es nur kleine Symbole sind. Es waren schon Menschen aus dem Land der Maurya hier, aus dem Reich der Gelben Erde nur wenige, auch aus Khotan, aus dem Industal, und ich hörte von den Gedanken und Kulturen der fernen Hellenen und Skythen.

 

Heute ist ein besonderer Tag, denn es werden, wie ich das von hier oben so erkennen kann, in der südlichen Herberge des heiligen Berges Kang Tise viele verschiedene Kulturen aufeinandertreffen. Für mich bedeutet das, dass ich wunderbar an diesem einen Ort verweilen kann. Wenn sie sich an unterschiedlichen Stellen befinden, wie zurzeit noch, kann ich nicht überall gleichzeitig sein, um sie zu beobachten und ihre Gespräche zu belauschen – wenn es denn Gespräche gibt und sie sich durch Meditation nicht in tiefes, langanhaltendes Schweigen hüllen.

 

Meist war es so, dass sie die schweren Bergpassagen schweigend gingen, in sich versunken. Es war anstrengend in der Höhe während des Gehens zu reden, besonders für die, die es nicht gewohnt waren, weil sie nicht wie die Menschen aus Zhang Zhung und dem Schneeland in diesen Höhen beheimatet waren. Doch heute Morgen wachte ich durch das rege Schnattern zweier Männer aus dem fernen Staate von Han aus dem Reich der Gelben Erde auf, die mir gestern schon aufgefallen waren. Gestern war ich bei den beiden Seen und kam erst gegen Abend wieder zum Kang Tise zurückgeflogen. Die Menschen von Zhang Zhung, aus dem Schneeland und aus dem Maurya-Reich, sie alle gingen in sich gekehrt oder leise betend, Mantras summend oder leise singend den Weg um den Berg. Doch die beiden Männer redeten die ganze erste Hälfte des Weges ohne Unterlass! Die andere Hälfte jedoch schwiegen sie, aber nur, weil der eine über die Gedanken des anderen nachdachte… Die beiden würden, so hoffe ich bald, noch vor dem Unwetter mit ihren beiden Pferden und zwei Lasteseln in der südlichen Herberge eintreffen. Die Lastesel hatten wahrhaft schwer zu tragen, aber sie taten es sehr tapfer und für Esel bemerkenswert gelassen. Das Reden der beiden Männer schien auch die Tiere von dem beschwerlichen, langen Weg, den sie schon hinter sich hatten, auf eine beruhigende und einlullende Art abzulenken. So trotteten auch die Esel in einer Art meditativem Gang hinter den anderen her.“

 

 

 

Um die beiden Männer zu zeigen, flog der riesenhafte Khyung von der Kristallspitze des Kang Tise hinunter und landete weiter östlich auf einem Felsvorsprung, unter welchem die beiden Männer gerade schweigend entlanggingen. Sie waren noch so in sich versunken, dass sie die dunklen Wolken nicht bemerkten, die sie kurz gesehen hätten, hätten sie sich gerade in diesem Moment umgedreht.

 

Der Jüngere der beiden, Hanaskea, der Sohn des Älteren, hatte es, seit sie in der nördlichen Herberge eingekehrt waren, um die Nacht dort zu verbringen, aufgegeben, aus der Mimik des Älteren irgendetwas abzulesen. Es war eben eine Eigenart seines Vaters und Meisters Choi, bei neuen Gedanken erst einmal so lange in sich zu gehen, bis er seinen Standpunkt dazu gefunden hatte. Dies tat er vor allem bei solchen Gedanken, die er noch nicht so recht einzuordnen wusste, weil sie nicht ganz in sein Weltbild hineinpassten, dennoch aber sein Interesse fanden. Was er aber nicht gleich zugeben konnte. Zum frühen Morgen war er zunächst offen für neue Gedanken gewesen, bis zu jenem Zeitpunkt, seit er sich in tiefes Schweigen hüllte.

 

Als Kind hatte Hanaskea seine Schwierigkeiten mit dieser Art. Er hatte lange gedacht, es wäre sein eigener Fehler gewesen. Er hatte den Schluss daraus gezogen, er selbst hätte etwas Falsches gesagt, getan, wie auch immer. Hanaskea war kein Kind von Traurigkeit gewesen und so hätte es schon passieren können, dass eine lockere Redensart oder ein unbedacht dahingesagter Nebensatz seinen Vater zum Schweigen und Grübeln gebracht hatte. Manchmal hätte er sich gewünscht, er wäre zornig geworden, hätte ihn angeschrien, vielleicht sogar eine Tracht Prügel verpasst. Hauptsache, er hätte irgendwie reagiert. Das Warten auf ein Wort von ihm war ihm schlimmer vorgekommen als eine handfeste Strafe. Er hatte sich einfach immer schuldig gefühlt und versucht, seine Unsicherheit mit seinem Humor zu überspielen. Im Innern jedoch hatte es ihm sofort den Appetit verschlagen. Der Vater hatte geschwiegen und der Sohn prompt keinen Hunger mehr gefühlt.

 

Er war ein recht sensibles Kind gewesen. Daher war sein starkes Mitfühlen nicht verwunderlich gewesen, das noch dazu gekommen war, als seine Mutter Hühner geköpft oder Lämmer, Schafe, Schweine, Rinder oder welches Tier auch immer getötet hatte. Wenn er bei der Tötung dabei gewesen war, hatte er später das Essen auf dem Tisch nicht herunterbekommen können. Anfangs hatten sie ihn gezwungen, denn gegen die Eltern hatte niemand aufbegehren dürfen. Doch nach zwei Bissen hatte er jedes Mal alles wieder ausgespien und war prompt mit hohem Fieber krank geworden. Daraufhin hatten seine Eltern ihm seine Eigenart gelassen. Mit zwölf Jahren, nach dem Tod seiner Mutter, hatte er das Essen von Fleisch komplett verweigert. Er kannte bis heute nicht den Grund ihres plötzlichen Todes.

 

Seitdem war er näher an seinen Vater herangewachsen, hörte bei Gesprächen zu, die sein Vater mit Freunden führte, über Kaiser, Könige, Herzöge und das einfache Volk. Über das Leben und den Sinn, und er fing an, sich selbst Gedanken darum zu machen. Er lernte viel von seinem Vater, Meister Choi, der aus der Schule der Gelehrten, der Schule des Meisters Kong Fū Zi, des Meisters Kong, stammte und welche auch er besuchte. Er verstand seinen Vater gut und schätzte ihn sehr. In manchen Dingen hatten sie jedoch eine andere Herangehensweise oder Sichtweise. Dann kam es eben zu solchen Verstimmungen. Je älter er wurde, desto öfter kam es dazu. Jetzt wusste er natürlich, dass es für seinen Vater ein Denken in Stille war. Es gab hierfür keinen Schuldigen, nur einen Gedanken, der es auslöste. Nie war sein Vater ihm wirklich böse gewesen. Seine kindliche Angst war unbegründet gewesen. Das hatte er irgendwann erkannt und war auch seitdem freier in seinen Gedanken, jedoch seinem Vater gegenüber immer höflich und nie aufbegehrend.

 

Khyung, der mächtige Vogel mit einem Stierkopf und dem Schnabel eines Adlers, der Schlangentöter, die größte Schutzgottheit der Lehre des Bön, schätzte mit einem zugekniffenen Auge den Weg ab, den die beiden noch bis zur südlichen Herberge vor sich hatten. Er nickte zu sich, als würde er damit signalisieren, dass die Chancen gutstanden, dass sie es noch vor dem Unwetter schafften. Am liebsten würde er zu ihnen fliegen und sie ein wenig von hinten zur Eile drängen. Doch die Mühe war vergebens, denn die Männer aus dem weit entfernten Han konnten ihn ja nicht sehen, weil sie ihn nicht kannten. Sie glaubten an andere Gottheiten, wohl auch an andere Geister und Dämonen und, wie er schon mitbekommen hatte, auch an alte große edle Könige, Himmelssöhne und Drachen!

 

Khyung konnte es sich nicht erklären, aber ab und an sah er tatsächlich einen kleinen roten Drachen aufflackern, der den jüngeren Mann zu begleiten schien und auch den älteren immer mal umkreiste. Irritiert war Khyung, als er versuchte, ihn mit seinen doch sehr scharfen Augen genauer anzusehen und dieser ihm kurz zuzwinkerte. Frech. Khyung war überrascht, obgleich er es gewohnt war, dass um den heiligen Berg Kang Tise mittlerweile viele Geister, Götter und Dämonen von anderen Kulturen schwebten. Es war auch schon zu Kämpfen gekommen, denn es ging immerhin um sein Reich, das Reich des Bön! Waren alle einfach nur da, so konnte es ihm gleich sein. Überschritt man aber seine große Toleranz und wollte ihn verdrängen, dann konnte auch er seine mächtigen und tödlichen Krallen zeigen! Er war zu vielen friedlichen Lösungen bereit, die Hauptsache war, dass sein Name gewahrt blieb, und die, die ihn ehrten, ebenso gewahrt blieben.

 

 

 

Khyung beobachtete die beiden Männer aus Luoyang aus dem Staate Han aus der Nähe des Gelben Flusses, der wahrhaftig gelb sein sollte.

 

„Diese beiden Männer, interessante Gedanken haben sie. Wie sie, so kommen auch ihre Ideen von weither. Ich habe langsam das Gefühl, dass sich all die unterschiedlichen Ideen, die hier zusammentreffen werden, in ihrem Ziel leicht ähneln. Auf der Suche nach Antworten auf ihre Fragen, auf der Suche nach Erlösung, auf der Suche nach Höherem, pilgern sie zu und um den heiligen Kang Tise, den die meisten als Weltenberg sehen, und pilgern um die beiden heiligen Seen und ebenso um den schönen Gurla Mandhata. Gleich heute Morgen begleitete ich die beiden Männer aus Han, um keines ihrer weisen Worte zu verpassen. Der ältere Mann der beiden, wohl ein Meister seines Fachs, wie ich vernahm, erzählte Beeindruckendes aus ihrem Reich der Gelben Erde:

 

Meister Choi sprach: „Diese ewigen kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen den fast 200 kleinen Reichen, die eben einfach keinen Frieden halten konnten, waren auf Dauer keine Lösung. Die kleinste Entwicklung wurde sofort im Keim wieder vernichtet. Eine Einigung war schon an der Zeit, sodass die Zeit der Streitenden Reiche ein Ende finden würde. Doch das, was folgte, lässt mich des Nachts immer noch schlecht schlafen. Eine große, blutige Einigung. Mit so viel Blut. Die große, blutige Mauer ließ Qin Shihuáng, der erste Gottkaiser von Qin, wie er sich selbst betitelte, durch die Verbindung bereits bestehender Mauern der sieben Reiche bauen. Nur, um den neuen Staat Qin gegen die Barbaren zu schützen.

 

Sein Wahnsinns-Mausoleum! Man flüstert hinter hervorgehobener Hand, die Konstrukteure der Anlage und alle Arbeiter wären lebendig begraben worden! Man stelle sich das vor, nur, damit sie nichts vom Aufbau der Anlage verraten konnten! Diese blutigen Mittel, die zehntausenden Menschen das Leben gekostet haben sollen, das waren Mittel der Barbaren und nicht von Männern, die wahre Herrscher sein wollten! Herrscher der Menschen, die, die des Volkes Willen vertreten und Frieden haben wollten!

 

Weit weg waren diese von den Werten eines Edlen! Für Qin war der Mensch nicht von Bedeutung, ebenso wenig waren es Recht, Sitte, das tugendhafte Verhalten und die Riten. Zwangsarbeiten ließ er fast alle Männer zwischen 17 und 60 verrichten. Ich war sehr krank zu dieser Zeit gewesen, zu meinem Glück, sonst hätten wir jetzt nicht diese beglückende Reise zusammen antreten können. Du warst damals gerade erst geboren. Ich hätte die Zwangsarbeit sicher nicht überlebt. Ganze Landstriche waren nur von Frauen, Kindern und Alten bewohnt gewesen und der Handel war nahezu zum Stillstand gekommen, da die Männer zu seinen persönlichen Wahnsinnszielen abgefordert waren. Wer aufbegehrt hatte, wurde getötet.

 

Selbst beim Krieg, der an sich nichts Gutes hat, doch nach den Prinzipien der Ehre und Gnade wenigstens ein Mindestmaß an Menschlichkeit aufweist, selbst dort setzte er alles außer Kraft, was je zuvor Geltung besessen hatte. Er ließ alle Gefangenen einfach hinrichten. Seine eigenen Soldaten hatte er unter totaler Kontrolle. Er ließ jeweils fünf Männer eine Gruppe bilden. Wenn einer aus der Gruppe floh oder anderen angeblichen Schaden anrichtete, wurde eben die ganze Gruppe hingerichtet… Unzähliges könnte man über ihn berichten. Schändliches.“

 

Meister Choi schüttelte den Kopf. Er konnte es wohl immer noch nicht fassen, was sich abgespielt hatte, und fuhr fort: „Die Bücherverbrennung dieses ersten Gottkaisers von Qin war einer seiner unermesslich großen Fehler. Verbranntes Wissen kann man nur selten wieder herstellen!“ Er schüttelte wieder traurig den Kopf.

 

Der Schüler und Sohn Hanaskea meinte dazu: „War es nicht so, dass er nur Bücher über Medizin, Orakelkunde und Landwirtschaft unbeschadet ließ, doch alle Lieder, Urkunden und alle Schriften der Hundert Schulen, die irgendjemand im Reich aufzubewahren gewagt hatte, wurden verbrannt, damit keiner sich mehr traute, gegen ihn zu debattieren?“

 

Meister Choi sagte: Traurig aber wahr. Sogar über 450 Gelehrte, die sich dagegen auflehnten, ließ er auf dem Marktplatz hinrichten. Unzählige ließ er hinrichten, die es wagten, über den Inhalt der verbotenen Bücher zu sprechen. Seine grausame Macht reichte bis ins kleinste Dorf. Wie hieß es noch: Wer einen Schuldigen nicht denunziert, wird in zwei Teile gehackt; derjenige, der einen Schuldigen denunziert, erhält die gleiche Belohnung wie der, der einen Feind in der Schlacht köpft.[4] Was hatten die Menschen da noch für eine Wahl? Besonders die einfacheren Menschen, die keine Bildung besaßen? Ich hörte, dass Qin Shihuáng wohl mehr als 2.000.000 Menschen hat hinrichten lassen. Oder sie waren durch die Zwangsarbeit gestorben. Ich kann nur hoffen, dass alle zukünftigen Herrscher unseres Volkes dieses brutale staatliche Vorgehen als grausames Mahnmal sehen! Ich kann nur hoffen…“

 

Der Schüler und Sohn Hanaskea meinte: „Das rücksichtslose Streben von Qin führte zum schnellen Untergang. Die QinDynastie hat ja nun glücklicherweise ein Ende gefunden. Krank war Qin Shihuáng und verrückt! Attentaten entging er knapp. Das hatte seine Angst vor dem Tode und vor bösen Geistern gesteigert, die ihn alle verfolgten. Er opferte und betete auf allen hohen heiligen Bergen, um die Geister gütig zu stimmen. Ich hörte, dass er versuchte, ein Elixier der Unsterblichkeit von einer fernen Insel zu bekommen. Als das Expeditionsschiff nicht wiederkam, er hätte sie garantiert alle getötet, befehligte er Heiler, ihn unsterblich zu machen. Dabei hatte gerade das zu seinem Ende geführt.“

 

Meister Choi sagte: „Das einzige, von dem ich sagen kann, das sich bei der Einigung als sinnvoll erwies und das Zusammenleben nun vereinfacht, sind die neuen Straßen, die einheitlichen Münzen mit dem Loch zum Umhängen, die Vereinheitlichung der Gewichte sowie der Längen- und Hohlmaße und die einheitliche Schrift. Doch all dies diente dem Gottkaiser nur dazu, vollkommene Kontrolle auszuüben. Er sah es nicht als guten und sinnvollen Dienst am Volke. Das Volk behandelte er wie ein Stück Dreck, ohne Gefühle. Bei Vergehen wurden einfach Körperteile abgehackt…“

 

Hanaskea schüttelte sich. Er merkte, wie ihm bei diesem Thema übel wurde und sagte:

 

„Vater, Meister Choi, lasst uns über ein erfreulicheres Thema sprechen, wir sind weit weg von Staat, Politik und Ungerechtigkeiten.“

 

Meister Choi sagte: „Ja, Recht hast du. Möge der jetzige Staat von Han das ausführen, was er verspricht. Jetzt hat Han die Ideen der Anhänger der Schule der Gelehrten staatlich anerkannt. Diese Ideen eines gut funktionierenden Staates des hohen und von mir so geschätzten Meisters Kong[5] werden dafür sorgen, dass die Grundlage einer Regierung auf der Unter-stützung durch die Bevölkerung und das rechtschaffene Handeln des Herrschers beruht… Mögen sie auch wirklich die Menschen rechtschaffenes Handeln lehren, damit diese nicht in materielle Verstrickungen geraten und die Ungerechtigkeit von neuem ihren Lauf nimmt!“

 

„Diese Worte der beiden Männer aus Han hatten mich erschüttert. Jetzt konnte ich verstehen, dass sie von dort aufgebrochen waren in diese Richtung, denn sie hörten von der reinigenden Wirkung dieses heiligen Berges im Lande Zhang Zhung, um sich zu sammeln, um wieder zurück zu sich zu finden, zur inneren Ruhe. So, wie ich hörte, war es allerdings der alte Meister Choi, der diesen Weg gehen wollte und sein Sohn konnte und durfte ihn nicht allein ziehen lassen. Um sicherzugehen, hatte Meister Choi das Yi Jing[6] befragt, das große Weisheitsbuch der Wandlungen, und hatte die Schafgarbenstängel nach dem vorgegebenen Ritual gezählt. Es sandte gute Zeichen mit 49, Feuer unter dem See, für sein Vorhaben. Entschlossenes Handeln würde zu neuer Ordnung führen, eben auch eine örtliche Veränderung, eine Reise. Auf dieser Wanderschaft würde er das finden, wonach er suchte. Einen rechten Partner des Vertrauens sollte er noch suchen, doch die Entscheidung war in diesem Moment schon gefallen, dass dies kein anderer als sein Sohn sein sollte. Den rechten Zeitpunkt sollte er noch wählen und dann mutig und entschlossen tun, was getan werden musste, um eine neue Ordnung zu finden. Der rechte Zeitpunkt war gekommen, denn sein Sohn hatte weder Frau noch Kinder und war daher frei, mit ihm die Reise, die sich über einen längeren Zeitraum erstrecken würde, anzutreten.

 

Ich war eben rasch eine Runde geflogen, damit auch ich wieder Luft holen konnte. Von oben hatte ich Ushlaran, den Bön-Priester, vor dem südlichen Herbergstempel erblickt, wie er zwei Mönche verabschiedete, die dann Richtung Süden weitergewandert sind.

 

Gleich darauf sah ich ihn mit einem Yak-Nomaden sprechen, der sich mit seiner kleinen Herde auch nur kurz dort aufgehalten hatte, um dann weiterzuziehen.

 

Ich sah die Gruppe der zwei Frauen und dem Jungen mit den fünf Pferden, die aus der Richtung des Maurya-Reiches kamen, über den Gurla La-Pass, wo sich ein schreckliches Ereignis abgespielt hatte, von dem ich später berichten werde. Auch sie müssten es schaffen, vor dem Unwetter den südlichen Herbergstempel zu erreichen.

 

Ich sah von der anderen Seite kommend, und bei ihnen könnte es sehr, sehr knapp werden mit dem Unwetter, die Familie aus Khyung Lung aus Zhang Zhung. Die Alte, gTanobakt, die ich schon kenne, mit ihrer Tochter dGimra und deren kleinen Tochter auf dem Rücken, mit einem Yak und einem Kiang, einem Wildesel, im Schlepptau.

 

Ich sah den Jina[7]-Asketen nahebei in der Höhle sitzen und meditieren und sah noch eine Strecke vor ihnen den Mann der Alten gTanobakt, gKyr, der den Kang Tise nach Körperlängen umrunden wollte. Ihn kannte ich auch schon seit vielen Jahren, doch ich sah ihn das erste Mal den Kang Tise auf diese beschwerliche, aber sehr verdienstvolle Art, umrunden.

Wenn sich die Wetterdämonen noch etwas Zeit ließen, könnte die Familie ihren Vater einholen und zusammen mit ihm den schützenden Herbergstempel erreichen. Aber das sieht alles sehr, sehr knapp aus. Noch ist für alle etwas Zeit. Noch sehe ich die dunklen, drohenden Sturmdämonen in weiter Ferne.

 

Noch habe ich die Hoffnung, dass sie alle nun bald in der südlichen Her-berge eintreffen werden. Rechtzeitig, so alle Götter, Geister und Dämonen und ich es wollen.

 

Mir bleibt also noch etwas Zeit, von den beiden Männern aus Luoyang aus dem Staate Han weiterzuerzählen. Jetzt wurde nämlich das Thema richtig spannend. Fast alles war neu für mich, noch nie gehörte Worte, sodass auch ich alles um mich herum vergaß. Ich begleitete also wieder die beiden Männer. Dank ihrer intensiven Unterhaltung nahmen sie den beschwerlichen Weg über Stock und über Stein, hinauf, hinab, und den doch recht kalten Wind nicht so recht wahr.

 

So hörte ich, wie der Schüler und Sohn Hanaskea, der junge Mann mit sehr weißer Haut und einem langen schwarzen Zopf unter seinem Hut, meinte: „Auch wenn ich es schon mehrere Male gehört habe, sei es von dir, sei es an der Schule der Gelehrten, so gibt es doch immer etwas Neues für mich. Etwas, das wieder eine Erkenntnis reifen lässt, wenn du mir von den Lehren des großen Meisters Kong erzählst. Insbesondere weiß ich zu schätzen, dass du mir nie einen Vorwurf gemacht hast, dass ich zur Schule des Tao gewechselt bin, um die Lehre des großen Meisters Laozi zu studieren. Ich bin von beiden zutiefst beeindruckt. Von jedem auf seine Art.

 

Mein Interesse am Staat hält sich doch in Grenzen, dafür findet das Interesse am Volk, am Menschen an sich bei mir noch mehr Beachtung und, wenn ich ehrlich bin, auch das Wesen in mir selbst.

 

Dennoch, Meister Kong hatte sehr umfassende, interessante, präzise Ansichten, ich nenne es eine menschliche Strategie, was den Staat betraf. Sein Ziel war ein sattes Volk, das durch seinen gesättigten Bauch zufrieden war und von sich aus dann dem Herrscher folgte. War es nicht so, ganz vereinfacht gesprochen?“

 

Meister Choi sagte: „Im Prinzip war es so. Doch erschrick nicht, wenn ich es bin, der dir von jetzt an ein paar Fragen stellen wird. Ich werde in die Rolle des Schülers schlüpfen. Du wirst dir den Mantel des Meisters umhängen. Wir sind hier an einem sehr kraftvollen Ort. So will ich dein Verständnis zu dem Erlernten durchleuchten. Wir holen das an die Oberfläche, was du wirklich weißt. Durch bloßes Auswendiglernen wird dein Glanz nur für kurze Zeit aufblitzen. Tiefes Wissen jedoch wird dich fortwährend in einem weisen Licht erstrahlen lassen!“

 

Hanaskea holte gerade tief Luft, um einen Versuch des Protests zu starten, doch eine Handbewegung seines Vaters und Meisters duldete keine Widerrede, sodass er sich seiner neuen Rolle widerspruchslos fügte. Meister Choi sagte:

 

„Wenn hier durch das Beschreiten dieser Kora, der Umrundung dieses heiligen Berges, die innere Reinigung möglich ist, wie der Mönch uns erklärte, so will ich erkunden, ob du bereit bist und den Weg und den Sinn oder das Tao, im Leben erfahren wirst oder erfahren kannst. Und ob du nach den vielen gegangenen Schritten nicht vergessen hast, wie es sich um Recht und Sitte verhält.

 

Bevor wir mit dem großen Meister Kong beginnen, will ich dich fragen, warum eigentlich verlief unsere Reise in diese Richtung?“

 

Der Schüler Hanaskea schluckte einmal, atmete kurz durch, lächelte und antwortete:

 

„Wir waren auf der Suche nach dem paradiesischen Ort, den unsere Vorfahren im Kunlun-Shan, dem Kunlun-Gebirge, sahen. König Mu Wang aus der Zhou-Dynastie reiste vor 800 Jahren dorthin und entdeckte im Kunlun-Shan den Jade-Palast, in dem Huáng Di, der große Gelbe Kaiser, vor 2.500 Jahren residiert hatte. Wir haben erkannt, dass dieser Ort, nachdem wir ihn mit eigenen Augen gesehen hatten, wohl doch kein irdischer Ort jenes Jade-Palastes gewesen war, vielleicht aber einfach auch jetzt nicht mehr zu sehen und einfach verschwunden war, da die Zeiten sich geändert hatten. Nicht eine einzige wahre Spur hatten wir finden können. Nicht einmal einen Stein, ein winziges Stück Jade. So erkannten wir, dass es sich wohl eher um ein goldenes mythisches Reich unserer mythischen Vorfahren gehandelt haben muss, deren großer Geist die Herrscher auch heutzutage wieder erhellen lassen sollte. Im Staate Han ist man ja bemüht. So führte unser Weg weiter zu diesem mythischen Ort.“

 

Meister Choi fragte: „Was war wohl das Wichtigste im Leben aus der Sicht des großen Meisters Kong?“

 

Hanaskea antwortete: „Es war die Bildung. Bildung sah er als Wurzel der Persönlichkeit. Dazu zählten die Tugenden Sittlichkeit, Rechtschaffenheit, die Weisheit, die Aufrichtigkeit und die gegenseitige Liebe. Ganz den deinigen hohen Werten, geschätzter Vater und Meister. Zudem Gleichmut und das Streben nach Harmonie. Als das Wesen der Sittlichkeit wären die Würde, die Wahrhaftigkeit, die Weitherzigkeit, die Tüchtigkeit und die Güte noch von großer Bedeutung. Meister Kong besaß eine große Menschen-kenntnis. Sein oberstes Ziel von allem war die Ausbildung zu einem moralisch einwandfreien Menschen, den er als den Edlen schätzte. Edel könnte jeder werden. Jeder, der im Einklang mit der Harmonie des Weltganzen lebte. Meister Kong stieß mit seinen Ideen in der Politik oft auf Interesse, doch scheiterte es an der Fähigkeit der Verantwortlichen, dies umzusetzen. Daher setzte er all seine Energie in die Ausbildung, in die Errichtung der Schule der Gelehrten. Er übte sich in Geduld, indem er meinte, allzu schnellen Ruhm und Erfolg solle man nicht suchen, sondern eine Basis schaffen für alle nachfolgenden Generationen – und dies mit großer Sorgfältigkeit. Das rechte Verhalten stellte sich ein, wenn der Mensch bescheiden, ehrfurchtsvoll und bestrebt wäre, tüchtig zu sein.“

 

Meister Choi ließ sich bei all seinen Antworten nichts anmerken, weder, ob etwas fehlte, noch, ob ihm etwas besonders gut gefiel. Hanaskea ließ sich darauf ein.

 

Meister Choi fragte: „Was genau darf ich unter seiner Lehre verstehen?“

 

Hanaskea antwortete: „Der Himmel, Gott, bestimmte die Ordnung, die die Natur hervorbrachte. Der Mensch war Teil der Natur. Des Menschen Aufgabe war es, nach dieser Ordnung zu streben, welches den Menschen zu einem edlen Menschen werden ließ.

 

Entsprechend des Himmels Ordnung war die Sitte die Ordnung auf Erden, damit die Menschen zur Ordnung des Himmels und damit zu Glück und Frieden fänden.

 

Der Weg über die Bildung führte zur Einsicht in die höhere Ordnung und die Sitte war das Gesetz des Himmels auf Erden. Dieses Gesetz, das jedes Verhalten eines jeden Menschen an jedem Standort zu jeder Gelegenheit festlegte, hatte Meister Kong seinen Schülern weitergegeben. Womit seine Schüler natürlich auch in die große Ordnung eingewiesen wurden. Damit die Schüler dies verstanden, gab er sich alle Mühe. Doch so manches Mal war er gar verzweifelt, da er erkennen musste, dass nur die wenigsten Menschen dazu in der Lage waren, dies zu verstehen und dies in der Folge auch anzuwenden. Die einen waren zu töricht, die anderen zu klug oder zu tüchtig. Die Sitte half jedoch, den Menschen zu erziehen, auf dass er sich von den Tieren unterschied.“

 

Meister Choi unterbrach: „Welche durfte man als die fünf Sitten der Gesellschaft bezeichnen?“

 

Hanaskea antwortete: „Die Festsitten, die Trauersitten, die Gastsitten, sie Heeressitten und die Glückwunschsitten.“

 

Meister Choi fragte: „Die Sitte – was gab es Weiteres zu berichten, um sie zu verstehen?“

 

Hanaskea antwortete: „Die Sitte ordnete das ganze Leben wie die Natur es vorgab. Unsere weisen Urkaiser hatten uns dies vorgelebt. Deren Wissen hatte Meister Kong aus alten Schriften erneut zusammengetragen, damit es in seiner Zeit und in allen kommenden Zeiten als Grundlage dienen konnte. Auch nach seinem Tod hatten seine Schüler diese Klassiker ergänzt oder eben seine weisen Worte schriftlich festgehalten…“

 

Meister Choi unterbrach: „Ich will dich nicht verwirren, Meister, aber es kommen stets neue Fragen auf. Aus einer Antwort entstehen viele neue Fragen. Von welchen Werken sprichst du, die man als die „fünf Klassiker“ bezeichnen darf?“

 

Hanaskea antwortete: „Es ist das Yi Jing, das Buch der Wandlungen, das große und sehr alte Buch der Weisheit, das zu Orakelzwecken benutzt werden kann, da es die Welt in vielen Facetten beschreibt. Es sieht die Veränderungen als gegeben an, ebenso wie die Ausgewogenheit der Gegensätze, die durch Yin und Yang, dem weiblichen und männlichen Prinzip, durch Erde und Himmel eingeteilt sind.

 

Es ist das Shu Jing, das Buch der Urkunden, einer Sammlung aus Gesetzen und Erlassen, aus Ansprachen, Dialogen, Ratschlägen, Unterweisungen, Erklärungen, Reden, Ernennungen, Befehlen von König und hohen Beamten an die Untergebenen und natürlich vielen Kommentierungen.

 

Es ist das Li Ji [8], das Buch der Riten, der Sitten und Gebräuche, das das Verhalten bei Hofe und das Verhalten eines Menschen auf dem Weg zu einem edlen Menschen festhält, so, wie es Meister Kong gelehrt hatte. Sowie alle Regeln eines menschlichen Lebens überhaupt bis hin zum rituellen Kult, um die Ahnen zu ehren. Dieses Buch ist erst aus neuerer Zeit und wird noch immer ergänzt.

 

Es ist das Chunqiu, die Frühlings- und Herbstannalen, eine Chronik des Herzogtums Lu über einen Zeitraum von über 350 Jahren, die er von seinem Standpunkt der Sitte und Gerechtigkeit kommentierte. Mit großem Geschick versteckte er darin eine Anleitung zu gutem Regieren. Besonders dieses Buch übt zurzeit großen Einfluss auf unseren Staat Han aus, was Hoffnung keimen lässt, doch…“

 

Meister Choi unterbrach: „Die eigene Meinung ist keine Antwort auf eine Frage nach Gegebenheiten!“

 

Hanaskea antwortete: „Das ist richtig. Es bliebe noch das Buch der Lieder, das Shi Jing, eine Sammlung von sehr alten Volksliedern, Festliedern, Kriegsliedern, Liebesliedern, Weihegesängen und Staatshymnen.“

 

Meister Choi fragte: „Das Buch der Lieder – was hatte es mit der Musik auf sich? Welche Rolle spielte sie für Meister Kongs Lehre über die Sitte?“

 

Hanaskea antwortete: „Musik war für Meister Kong etwas ganz Erhabenes. Die alte Musik – nicht die neue! Die war ihm ein Gräuel und ein sicheres Zeichen für den Verfall der Sitten. Er sah in Musik den Zugang zum Höheren, zur Harmonie des Kosmos. Musik besänftigte die Leidenschaften und trug allein dadurch zur Vervollkommnung eines sittlich einwandfreien Menschen bei. Musik brachte Zusammenhang in gesellschaftliche Beziehungen.

 

Durch Sitte und Musik konnte das Menschenleben rhythmisch gegliedert werden. Die Musik verband und förderte die Liebe, die Sitte trennte und förderte die gegenseitige Achtung! Die Aufgabe von Sitte und Musik war es, die Gefühle der Menschen in Einklang und seine Äußerungen zur Schönheit zu bringen. Die Musik stammte aus dem Himmel, die Sitte formte sich nach der Erde. Wenn beides im Einklang war, konnte jedes Menschenherz erblühen!

 

Auch jetzt bemüht sich der Kaiser aus Han, diese alte Musik durch das neue kaiserliche Musikamt wieder fest in die Gesellschaft und bei Hofe zu integrieren. Die wahre Tiefe der alten Musik erreichen sie jedoch nicht oder nur ansatzweise. Diese erzielte einst wohl kaum nachvollziehbare Klänge durch verschiedenste Schlag-, Blas- und Zupfinstrumente in Verbindung mit Tanz und Darbietung, mit Bühnenbild, Stimme, Gestik und Mimik, mit dem Hintergrund der Natur, sodass der Zuhörer mittels dieser Musik mit der harmonischen Ordnung der Natur verschmolz.

 

Meister Choi lächelte für den Hauch eines Augenblicks versonnen und fragte weiter: „Du scheinst die Musik zu hören, obwohl kein Ton zu vernehmen ist.“

 

Hanaskea sprach: „Ich fühle die bescheidenen Mittel, die dem Menschen zur Verfügung stehen, um all dies um uns herum darin auszudrücken. Ich stelle mir einen Ton vor, vor meinem inneren Ohr, und sehe das Bild eines Sterns vor mir oder ich höre mehrere Klänge und sehe den Ablauf einer ganzen Zeremonie. Das versteckt sich hinter der hohen Kraft der Musik. All dies jedoch befindet sich nur in meinem Kopf. Ich kann mich nicht einmal einen Schüler einer Guqin nennen, so wenig kann ich…“

 

Meister Choi winkte ab und fragte: „Nun fahre fort, was gab es noch zur Sitte zu sagen?“

 

Hanaskea antwortete: „Die Sitte hatte ihre Wurzel im Himmel, und auf der Erde erfüllte sie sich durch das Werk eines Heiligen.“

 

Meister Choi fragte: „Was war wohl das Werk eines Heiligen?“

 

Hanaskea antwortete: „Einen wahrhaft Heiligen konnte sich nennen, der als König auf Erden Frieden schaffte. Dieser offenbarte die Sitte auf der Erde und brachte damit die Welt, den Staat und die Familie in Ordnung. Er konnte durch die Sitte Recht erkennen und Recht sprechen lassen, konnte Götter und Geister als Gäste empfangen, Güte und Gerechtigkeit walten lassen und Willkür unterbinden. Arbeitete er zudem zusammen mit den Tüchtigsten und Fähigsten des Landes und hielt er die Regierung stets in Ordnung, war seine Stellung durch Respekt gesichert. In der Verehrung der Ahnen im Ahnentempel zeigte er seine Menschlichkeit und Gerechtigkeit. In Gegenwart der Ahnen waren alle Beziehungen der menschlichen Gesellschaft geheiligt.

 

Durch die Opfer an die Erde waren ihm Gedeihen und reicher Segen sicher.

 

Für die Ordnung der Regierung wirkte er im Einklang mit den Göttern und Geistern, gestaltete schöpferisch wie Himmel und Erde und bildete somit die Dreifaltigkeit mit Himmel und Erde.

 

Es hieß: ‚Ein gütiger und milder Fürst ist Vater und Mutter des Volks.’ Und die ganze Welt sah der Heilige als seine Familie, wo er selbst den Staat als seine Person sah. Er musste die Menschen verstehen, ihre Gefühle kennen und sie entsprechend lenken, auf dass auch sie ihre Pflichten kannten. Er musste auf ihre Belange eingehen, Streit schlichten, die Wahrhaftigkeit fördern und Eintracht untereinander pflegen. Und er ging die neun Pfade, um ein Weltreich zu führen durch die Pflege der Person, die Ehrung der Würdigen, die Liebe zu den Nächsten, Achtung vor den höheren Würdenträgern, Verständnis für die Menge der Beamten, väterliche Liebe zum geringen Volk, Heranziehung der verschiedenen Arbeiter, Milde gegen die Fremden und das liebevolle Gedenken an die Lehensfürsten. Er förderte und belohnte das Gute und schreckte durch Bußen und Strafen das Böse ab. Das Böse vertilgte er, noch bevor es sich zeigte, und stärkte somit die Ehrfurcht des Volkes. Der Heilige hatte die Wahrheit gefunden und erkannt.“

 

Meister Choi fragte: „Wie stand es um die Wahrheit?“

 

Hanaskea antwortete: „Der Heilige, der die Wahrheit hatte, traf das Rechte ohne Mühe, erlangte Erfolg ohne Nachdenken, wandelte mit selbstverständlicher Leichtigkeit auf dem Weg von Maß und Mitte.

 

Des Himmels war die Wahrheit, des Menschen die Suche nach der Wahrheit. Nach der Wahrheit forschen hieß beharrlich sein. Dann würde er an Stärke gewinnen und mit Klarheit alles erkennen. Er begann beim Kleinsten, dies mit der Wahrheit zu durchdringen, das hieß, seinen wahren Kern zu ergründen. Über das Erkennen der Wirklichkeit folgten Sichtbarkeit und Klarheit und aus dieser heraus konnte Bewegung und Veränderung erfolgen, eine Wandlung, ein Umgestalten. Daher konnte nur einer, der die höchste Wahrheit erfahren hatte, wahrhaft etwas umgestalten, denn er tat dies im Sinne der Unerschöpflichkeit des Himmels. Dieser Heilige konnte aus seinem Wissen heraus die Zukunft deuten und die Vorzeichen bei Orakeln erkennen.

 

Der Heilige, der nicht nur sich selbst vollkommen machte durch vollkommene Menschlichkeit, denn er vereinte selbstlos alle Tugenden in sich, sondern auch die Außendinge durch ihre Weisheit, besaß alle Geisteskräfte des Wesens, um das Äußere und Innere zu vereinigen. So vereinte er Himmel und Erde zur Unendlichkeit.“

 

Sie gingen ein paar Schritte schweigend, dennoch schienen sie nichts um sich herum wahrzunehmen.

 

Meister Choi fragte: „Wie verhielt es sich mit der Gerechtigkeit?“

 

Hanaskea antwortete: „Mit seiner Lehre von Maß und Mitte wollte Meister Kong die bestehenden Missstände im Staat verbessern. Ja, man kann sogar sagen, er wollte die Welt verbessern! Er vertrat eine eigene Form von Gerechtigkeit…“ Hanaskea merkte, wie Meister Choi eine Augenbraue hob, also verzichtete er von nun an auf wertende Bemerkungen seinerseits und versuchte, wertfreie oder eben die Lehre des von seinem Vater zuhöchst geschätzten Meisters Kong vertretenen Antworten zu geben: „Gerechtigkeit war ihm ein großes Anliegen. Er sagte, dass, wenn es um Bildung ginge, die Stammesherkunft nicht zählen würde. Also nahm er auch Niedergestelltere in seine Schule auf sowie Fremde und Unbekannte. Damit stellte er den Grundsatz auf, dass alle Menschen gleich wären, was natürlich im korrupten Hofstaat der Könige und Fürsten nicht umzusetzen war. Dazu fehlte allein schon der entsprechende Herrscher, der die Fähigkeiten eines Edlen bereits mitbrachte oder zumindest starken Willens war, dies zu erfüllen.“

 

Die Augenbraue senkte sich wieder zugunsten eines kurzen Nickens. Das war das Zeichen, dass derlei Bemerkungen wiederum vollste Zustimmung fanden. Nun gut.

 

Hanaskea fuhr fort: „Meister Kong ordnete alles, denn um die Ordnung, die menschliche Ordnung als Abbild der göttlichen Ordnung, drehte sich bei ihm einfach alles. So sah er es auch beispielsweise bei den Beziehungen unter den Menschen. Der Sohn war dem Vater untergeordnet, das Volk dem Herrscher und die Frau dem Manne.“ Hanaskea hüstelte. Wahrscheinlich dachte er gerade an die eben erwähnte eigene Form von Gerechtigkeit des Meisters Kong, nach deren Vorbild auch sein Vater die Rolle seiner Mutter gesehen hatte. Es war eben nicht alles wirklich gerecht… „An der Schule des Meisters Kong bildete er seine Schüler zu Hofbeamten aus, auf dass sie die gelernten Werte in ihrem Amt zum Einsatz bringen würden oder entsprechende Ratschläge erteilen konnten. Das Verhältnis zu seinen Schülern war ein außerordentlich gutes. Er selbst wollte unbedingt korrigiert werden, wenn ihm einmal gedanklich Fehler unterliefen. Er sagte, auch er könne dadurch stets weiterlernen. Diese Regel übertrug er auch ins Familienleben, wo der Sohn an seinem Vater mit freundlichen Worten unbedingt Kritik üben sollte, wenn es erforderlich war.

 

Er stellte also Regeln für das Verhalten in der Familie auf und für das Verhalten der Herrschenden zum Volke.“

 

Meister Choi unterbrach: „Darf ich von diesen Regeln wissen? Nur ein paar Beispiele, damit ich mir eine Vorstellung davon machen kann. Erzähle mir etwas von den Regeln der Herrschenden.“

 

Hanaskea antwortete: „Ich beginne bei der Erziehung des Himmelssohnes, wie wir den Kaiser auch nennen. Gerade da war es wichtig, früh mit dem Einstudieren der Regeln bei Hofe zu beginnen, damit diese gefestigt waren. Unterricht und Aufgaben hatten Vorrang vor Lieblingsspeisen und Lieblingsbeschäftigungen. Er hatte nur rechte Männer um sich versammelt. Seine Schulen standen in den vier Himmelsrichtungen, die er nacheinander besuchen musste, um alle gesellschaftlichen Regeln zu erlernen: Über die Unterschiede von Alter und Jugend, die Abstufung zu den Verwandten, das rechte Einsetzen von Gnade, Tüchtigkeit und Tugenden, die unterschiedlichen Stufen des Adels und der Geringeren und das entsprechende Verhalten, um Achtung und Respekt zu erlangen. Danach folgte die Unterweisung in den rechten Weg über die rechte Ordnung durch einen Meister. Wurde ihm dann der Hut zum Manne verliehen, bekam er einen Aufpasser an seine Seite, der alle Fehler aufzeichnen musste, unter Todesstrafe für dessen Unterlassen. Ich meine natürlich Todesstrafe für den Aufpasser.

 

Mit dem Tode wurde dieser auch bestraft, wenn er versäumte, den Thronfolger durch Essensreduzierung zu bestrafen.

 

An einer Flagge, an einer Stange, einer Trommel konnten Ratschläge, Verbesserungsvorschläge und Kritik seitens der Regierung abgegeben wer-den. Ein Beamter überbrachte regelmäßig Worte und Gewohnheiten des Volkes. So konnte der Thronfolger die Entwicklung der Herrschaft seines Vaters verfolgen.

 

Als Herrscher zeigte er allein schon durch die Begrüßung der Frühlingsmorgensonne und des Herbstabendmondes, dass es Unterschiede gab, die zu beachten waren. Und um zu zeigen, dass alles seinen Rhythmus hatte, wurde jeder Schritt, den er fuhr oder ging, durch Glöckchen oder klingende Jade-Anhänger begleitet. Musik ertönte auch, wenn das Essen abgeräumt wurde oder wenn er über das Maß gegessen hatte. Da kam ein Schreiber, schrieb es auf, ein Sänger trug es vor und drei Herzöge lasen es nochmals vor, sodass das Essen künftig reduziert werden würde und der Himmelssohn ein weiteres Mal von Unrecht verschont bliebe.

 

Er hatte stets Beamte hohen Ranges um sich, die jeden Schritt kontrollierten und die vier Berater in den vier Himmelsrichtungen: den Rat, den Stärker, den Helfer und den Warner. Ein Himmelssohn kannte also die Sitten und Rechte, die Regeln der Würde und des Anstandes, er kannte die Urkunden, Lieder und die gehobene Musik, natürlich nach den klassischen Schriften. Er war stets freundlich zu seinen Eltern und kannte das rechte Verhalten bei Beerdigungen und die rechte Ehrergiebigkeit beim Opfer. Er war zuverlässig und stets vorsichtig im Handeln, wahrhaft bei Lohn und Strafe, reich an Geisteskraft und stark im Wandel. Großmeister, Großlehrer und Großschützer waren verantwortlich für sein Verhalten. Niemals durfte er sich gehen lassen, niemals nachlässig sein, sich ewig würdig verhalten und seine Frau unter den Ehrfürchtigen und Liebevollen auswählen. Auch ihr Verhalten stand für jede Zeit ihres Atmens…“, Hanaskea hüstelte, „…unter einer vorgeschriebenen Ordnung. Ebenso die Melodien, die sie hören durfte oder das Essen. Besonders als werdende Mutter galten zusätzlich besondere Regeln zur Erziehung, bereits im Mutterleib…“

 

Meister Choi unterbrach: „Welche Opfer waren von großer Bedeutung?“

 

Hanaskea antwortete: „Es waren vor allem die königlichen Ahnenopfer und die Ahnenopfer der entferntesten Ahnen der Dynastie im Ahnentempel östlich des Palastes. Westlich des Palastes wurden die Land- und Kornopfer dargebracht. Auf dem runden Altar im Süden vor der Hauptstadt wurden die Opfer für den Himmel vollzogen. Im Norden wurden auf dem Landesaltar durch Opfer der Erde gedacht.

 

Im Frühling wurde ein Widder geopfert, im Sommer ein Hahn, in der Jahresmitte ein Stier, im Herbst ein Hund und im Winter ein Schwein.

 

Die Geister der himmlischen und irdischen Naturordnungen wurden durch das von der Musik erregte Gefühl herbeigerufen als Zeichen, dass Frieden auf Erden herrschte und die Verbindung zum Himmel bestand.“

 

Meister Choi fragte: „In welche Richtung blickte der Lebende?“

 

Hanaskea sprach: „Er blickte nach Süden, Meister… Vater. So hatte der König auch stets seinen Thron im Norden stehen, damit er gen Süden auf das Volk blicken konnte.“

 

Meister Choi fragte: „Wo lag das Haupt eines Toten?“

 

Hanaskea sprach: „Das Haupt lag nach Norden gerichtet.“

 

Meister Choi fragte: „Die Summe dessen, was dir jetzt zu Meister Kongs Lehre einfällt, kannst du mir diese nennen?“

 

Hanaskea antwortete: „Von dem Willen des Himmels hing alles auf Erden ab. Also musste ein Edler auch diesen Willen aufs Genaueste kennen und diesen in sich verinnerlicht haben, damit er sich in seinem Tun und Nicht-Tun danach richten konnte. Er musste die Schönheit verstehen, deren Rhythmus das Leben bestimmte, und der Erscheinung Halt geben durch die Form deren Vergänglichkeit. Somit zeigte er, dass er die Natur der Dinge akzeptierte und verstand. Und so verstand er den Menschen und sein Verhalten und konnte diesen durch sein Wort entsprechend führen.

 

Die Grundgesinnungen der Sitte waren Liebe und Ehrfurcht. Die Harmonie der Seelenstimmung, ein tiefes, wohlgestimmtes Gemüt, Maß und Mitte in allen Äußerungen und stets dem Rechten folgen, waren nach Meister Kong die Regeln des Anstandes, die moralisch banden, so, wie auch die Kreisläufe in der Natur durch Bindungen und Abhängigkeiten ihren dauerhaften Bestand hatten. Und er sah sich als der vom Himmel Berufene, wie lange zuvor die großen Kaiser der Vorzeit, die ihre Ideale ebenfalls vom Himmel erhielten, um dieses Erbe der Vergangenheit über einen tugendhaften, moralisch und sittlich einwandfreien Menschen, auf die Erde unter die Menschen und die Nachwelt zu bringen. Die Spitze dieses Gebildes war der Herrscher, der dem Taiji, dem Nordstern, glich, der Kraft seines wahren Wesens an stets der gleichen Stelle weilte, während alle Sterne ihn umkreisten.“

 

Meister Choi fragte: „Was nennst du selbst die Summe seiner Lehren, kannst du mir dies sagen?“

 

Hanaskea antwortete: „Wer gegen den Himmel sündigte, in welcher Form auch immer, der hatte niemand, zu dem er beten konnte.“

 

Meister Choi fragte: „Auf was sollte ein König achten, wenn er einen Beamten einstellte. Kann ich davon etwas wissen?“

 

Hanaskea antwortete: „Er musste auf äußere Merkmale achten und auf die innere Gesinnung. Bei der Auswahl war er sehr vorsichtig und gewissenhaft. So beachtete er dessen Wahrhaftigkeit, prüfte dessen Gesinnung nach Substanz, nach Gleichmut, Gedanken, Bestechlichkeit, seiner Ruhe und dessen geordneten Sinn. Dann schaute er über das Äußere auf seine Mitte, um aus dem Sichtbaren auf das Verborgene zu schließen und betrachtete dessen Erscheinung durch den rechten Blick hinter die Gefühle. Daher beachtete er aufmerksam das Verborgene und suchte die Heuchlerei. Schließlich prüfte er seine Geisteskräfte. Wenn der Beamte ein gütiges Herz hatte, einen weiträumigen Willen, er bescheiden war und echt, fügsam und zuverlässig, er auf dem rechten Weg war, gewissenhaft, ehrerbietig und ein aufrichtiger Freund, so war er von wahrhaft edler Gesinnung. So prüfte er dessen Auge, denn dieses war der Ausdruck der Gesinnung und er prüfte das Wort, welches seine Handlungen andeutete.

 

Meister Choi fragte: „Du sprachst den Edlen schon an – woran konnte man einen solchen noch erkennen, darf ich das wissen?“

 

Hanaskea antwortete: „Der Edle war ein Mensch mit vornehmem Charakter. Der Edle war ein Mensch, der alles von sich forderte, nicht so wie der Geringe, der alles von den anderen forderte. Die Harmonie war ihm wichtig und nicht die Gleichheit. Der Geringe strebte nach Gleichheit und nicht nach Harmonie. Der Edle war vor allem ehrfürchtig, am meisten vor sich selbst, da er wusste, dass er von seinen Eltern abstammte und diese ehrte er.

 

Die Ehrfurcht vor sich selbst zeigte sich darin, dass der Edle stets die richtige Ausdrucksweise hatte, auf dass alle ihn genau verstanden, und seine Handlungen das rechte Maß hatten. Dann nämlich brauchte er keine Befehle zu erteilen, denn das Volk würde vor ihm ehrfürchtig sein. Damit erfüllte er die Kindespflicht und half seinen Eltern zur großen Vollkommenheit, indem er ihnen durch sein Wesen alle Ehre gab.

 

Der Edle wusste sehr gut zu unterscheiden, ob ein Mensch in seinem Wesen mit den Worten übereinstimmte, die er sprach. Er ließ sich durch schöne Worte nicht täuschen und erkannte dahinter stets dessen wirkliche Fähigkeiten. Ebenso verhielt es sich, wenn ein Geringer ein gutes Wort sprach, so erkannte er auch dieses und nahm es an. Der Edle konnte sehr gut in anderer Menschen Gesellschaft verweilen und wusste sich dort angemessen zu benehmen; weder wurde er zu gemein noch übertrieb er oder drängte seine Meinung anderen auf und hatte dennoch ein selbstbewusstes und umgängliches Auftreten.

 

Der Edle vertraute stets auf das Gute im Menschen. Er erwartete nicht zu viel von ihnen. Er förderte die Menschen nach ihren Vorzügen und redete nicht über ihre Fehler.

 

Dies, so sagte Meister Kong, gehörte zum Pfad eines Edlen: Sittlichkeit machte frei von Leid, Weisheit machte ihn frei von Zweifeln, Entschlossenheit machte ihn frei von Furcht.[9]

 

Der Edle zeichnete sich aus durch sein Pflichtbewusstsein, seine Selbst-losigkeit, seine Gewissenhaftigkeit, seine Treue, seine Anmut und seine Bescheidenheit. Sein Herz war nicht käuflich.

 

Er war vollkommen, aber nicht engherzig. Er zeichnete sich aus in all seinem Sein und Tun durch seinen Weg der goldenen Mitte. Im Geiste unterschied er sich von einem Heiligen, denn er konnte in Weiten reichen, die selbst der Heilige nicht erkannte. Wie ein Falke flog er in den Himmel, weiter als alle anderen, und wie ein Fisch tauchte er zum Grund, tiefer als alle anderen. Somit erforschte er den Weg in allen Höhen und allen Tiefen.

 

Wie sagte doch Meister Kong: ‚Lieber Armut mit Anstand als Reichtum mit Gemeinheit. Lieber sterben in Ehren als leben in Schande. Wenn sich die Schande vermeiden lässt, so vermeide man sie. Wenn man sie nicht vermeiden kann, so sieht der Edle im Tod die Heimkehr.’[10]“ Hanaskea hüstelte.

 

Meister Choi fragte lächelnd: „Was unterschied den Gelehrten von anderen?“

 

Hanaskea antwortete: „Der Gelehrte war der Sanftmütige, der mit seinem Geist versuchte, die Dinge zu ändern statt mit Gewalt.“

 

Meister Choi fragte: „Das Naturgesetz, was hatte es mit diesem auf sich?“

 

Hanaskea antwortete: „Der Weg war das Ziel und das Ziel war die höchste Übereinstimmung mit dem Naturgesetz. Dann war die Sitte erfüllt, dann war Frieden. Das Naturgesetz stellte von sich aus den ewigen Kreislauf dar, dass alles sich im steten Wandel befand, wie die Jahreszeiten, wie die Wandelzustände von Holz, Feuer, Erde, Metall und Wasser, Licht und Schatten, der Zyklus von Sonne und Mond, der Jahreszyklus, Tag und Nacht, die Zeiten und aus diesen resultierten alle Abläufe des Menschen.

 

Die Sitte wurzelte ursprünglich im Großen Einen, welches sich in Himmel und Erde teilte. Sein Wirken war im Himmel über die Götter und Geister. Seine Offenbarung war die Bestimmung auf Erden und der Mensch richtete sich mithilfe der Sitte nach seinen Offenbarungen in all den Kreisläufen der Natur.

 

Dadurch wurde eine dauernde Versorgung mit allem zum Leben notwendigen gewährleistet, die Toten bestattet und geehrt und den Geistern und Göttern gedient.

 

Beispielsweise sollte ein Bergbewohner nach dem Gesetz der Natur daher nie an der See wohnen, denn seine Erfahrungen waren am Berg von Nutzen. Meister Kong selbst fing die Fische mit der Angel und nicht mit dem Netz, um nicht mehr zu fangen als er brauchte. Wenn er jagte, dann auch nie, wenn die Vögel noch im Nest saßen. Was zeigte, dass das eigene Verhalten sich stets im Einklang und Respekt der Natur gegenüber zeigen sollte und man sich niemals über sie erheben sollte, denn dieses widerspräche der himmlischen Ordnung aufs Härteste!

 

Der Gebrauch von Feuer, Wasser, Metall, Holz, Speise und Trank richtete sich daher ebenfalls stets nach der Jahreszeit. Die Aufgaben für Männer und Frauen wurden entsprechend verteilt, ebenso die Einteilung in die Ämter. Höchste Übereinstimmung wurde auch durch die Verbindung von Musik und Sitte erzielt.

 

Der Natur fiel es nicht schwer, das zu tun, wozu sie gedacht war. Himmel und Erde hatten ihren Lauf und alles ging stets ineinander über und wechselte sich ab. Ein ewiger vollkommener Kreislauf. Der Mensch war in diesem Kreislauf die Verbindung von Himmel und Erde und umso mehr ein Teil dieses vollkommenen Kreislaufes.

 

Der Himmel war das Schöpferische, die Erde das Empfangende. Der Himmel war rund, die Erde ein Quadrat, denn das Runde stand für die Zeit und das Eckige für den Raum, um die Welt zu ordnen. Der Himmel selbst war eine Hohlkugel und die Erde selbst war rund. Die Menschen wurden durch die Himmelskugel, Luft und Äther, auf der Erde festgehalten. Die Sonne legte täglich einen Grad am Himmelskörper zurück…“

 

Meister Choi unterbrach: „Ich merke, du könntest endlos weitererzählen. Wenn ich all dieses höre, wird mir fast wehmütig ums Herz, so weit von unserer Heimat entfernt, doch noch nicht weit genug, um wieder zurückzukehren. Ich kann das bittere Erkennen des großen Meisters selbst nachfühlen. Es ist eine Schande, dass seine Ideen nicht mehr wirklich voll und ganz umgesetzt werden können. Nur eine sehr kurze Zeit fand er Gehör. Jetzt versucht man es wieder, nach der schlimmen Zeit des Qin. Ich kann nicht einschätzen, ob es ihnen gelingen wird, die großen Lücken, die durch Korruption und Machtmissbrauch entstanden waren, zu schließen. Diese Mächte sind zu stark und unser Land zu groß, so groß wie mein Misstrauen.“

 

Hanaskea antwortete: „Ja, Vater und Meister, die Lehre des Meisters Kong war zu erhaben, als dass sie komplett in das System des Hofstaates und die Gemeinschaft des Volkes übertragen werden könnte. Doch sie war so umfassend, dass sicher seine Ideen auch weiter in der Zukunft Anwendung finden und großen Einfluss haben könnten. Für den gewöhnlichen Menschen war es einfach zu anstrengend und schwer, sich Tag und Nacht nach allen Regeln der Riten, Sitten und Gebräuche zu richten. Es war schwierig, selbst für einen Herrscher, der belesen und klug sein sollte, da es erforderte, dass er sich vollkommen in das höhere Gesetz, das Meister Kong über die weisen Urkaiser zusammengetragen hatte, einließe. Dieser Mensch müsste wahrhaft eine göttliche Erscheinung sein, um nicht nur selbst nach den Gesetzen zu leben, sondern auch alle anderen dazu zu bewegen, sich diesem Gesetz vollkommen hinzugeben. Den Nutzen sehen die meisten nur, wenn ihre Münzkette ordentlich klimpert, denn der Gewöhnliche sieht sein Eigentum, der sittliche Mensch hingegen liebt seine Seele.“

 

Meister Choi leitete auf ein neues Thema um: „Ich sehe, dass du wahrhaft zu trennen weißt. Deine Gedanken hältst du fein säuberlich heraus oder lässt sie so mit einfließen, dass sie mit dem Gesagten verschmelzen und ich es nicht zu fassen bekomme. So verhältst du dich schon selbst wie das Wasser. Wenn es auf einen Felsen stößt, versucht es, diesen zu umfließen, ohne jedoch sich selbst dabei zu verlieren.

 

Meister, darf ich nun wissen, was genau es mit dem Fluss des Wassers auf sich hat, damit auch ich mich besser zurechtfinde und mich leichter im Fluss der Zeit treiben lassen kann. Einerseits habe ich das Gefühl, nicht so recht vorwärts zu kommen und andererseits meine ich, selbst ein Felsbrocken im Fluss des Lebens zu sein.“

 

Hanaskea ließ seine Überraschung unbemerkt. Dieser ungewohnte Rollentausch und nun die als offen zu bezeichnenden Worte seines Vaters verhießen eine spannende Umrundung dieses Berges. Dessen Energien schienen offensichtlich zu diesen neuen Wandlungen beizutragen und ebenso offensichtlich auch zu Hanaskeas eigener Ausstrahlung. Dieser kleine freche Drache, der sich nun die ganze Zeit auf seiner Schulter tragen ließ und weder flog, noch sich auf die Lasttiere setzte, damit er auch ja nichts verpasste; dieser kleine rote Drache jedenfalls fing plötzlich an zu leuchten von seinem Hals aus, so etwas hatte ich noch nicht gesehen! Drache, ha… ja… viele kenne ich…! Alle Farben, Größen und Formen, aber leuchtend… nein! Das gab es hier noch nie! Das musste eine ganz neue Art sein, sehr modern… Das könnte mir auch gefallen, so leuchtend über die hohen Schneeberge zu segeln und das, bei meiner Größe…

 

Hanaskea antwortete: „Das Wasser ist das Weichste auf Erden und es überwindet das Härteste. Sieht man das Harte, ist das Wasser sanft, weich, schwach, biegsam. Es kann aber dennoch das Harte besiegen. Es fließt hinab durch Täler, um sich mit dem Meer zu verbinden. Das Fließen des Wassers beschreibt als Bild am besten das Tao. Es ist das, was allem innewohnt und alles durchfließt. Es ist nicht die Energie – doch – es ist die Energie, aber auch das, das diese Energie, ohne dass man sie jemals sehen kann, lenkt. Es ist die Bewegung und es ist der Stillstand. Es ist so, wie es ursprünglich für jedes Ding gedacht ist. Egal, ob es das Feuer ist, die Luft, die Steine, die Pflanzen, die Tiere oder der Mensch, alle sind sie inmitten eines Kreislaufes, der scheinbar gesteuert wird, doch ohne bevormundende Kontrolle.

 

Es entspringt einer Ordnung, die unvorstellbar groß ist, dass sie einen verwirren kann. Doch diese verwirrenden Abläufe zu verstehen, darum geht es nicht. Es geht um das Sein, das tatsächliche Sein, das sich hinter allem verbirgt. Es ist das höchste Gesetz ohne ein Gesetz zu sein. Wie das Wasser des Flusses ist es stets in Wandlung und nicht einen Augenblick gleich, doch bleibt dies immer das Wasser, so, wie das Tao stets das Tao bleibt. Es fließt, weil alles aus sich heraus fließt, durch seine Anlagen.

 

Unsere Flüsse spiegeln am besten unser Leben wider: Je mehr sie eingeengt werden, je mehr sie umgeleitet werden, je mehr sie begradigt werden, je mehr sie den eigenen egoistischen Ansprüchen angepasst werden, desto weniger haben sie Raum, um sich auszudehnen, desto weniger können sie sich wehren, desto weniger können sie sich selbst reinigen, desto kranker werden sie. So, wie sie mit den Flüssen umgehen, gehen sie auch mit den Menschen um und dem Leben an sich.“

 

Meister Choi fragte: „Das scheint mir vom Tao weit entfernt, sehe ich das recht?“

 

Hanaskea antwortete: „Das ist wahrhaft weit vom Tao entfernt! Doch gehen wir vom besten Zustand aus:

 

Alles ist so, dass es in einem Miteinander, Nebeneinander, Umeinander existieren kann, stets im rechten Maße und stets in der rechten Mitte. Das Tao ist der Weg zurück, zurück zur rechten, von der Natur zugesprochenen Mitte, und von dort ist es das Tor zum Himmel, zum höchsten Sein.

 

Mitte und Maß sind der innere Leitfaden in jedem Ding, und natürlich auch in jedem Lebewesen, damit es in der Welt des Sichtbaren und der Welt des Unsichtbaren existieren kann. Dieser innere Leitfaden ist das Kleine und es ist die Verbindung zum Höchsten, zum großen, unsichtbaren, unfassbaren Leitfaden der Welt; vom kleinsten inneren Wesen zum höchsten äußeren Wesen.

 

Es ist der Mittelpunkt des Kosmos, der Mittelpunkt des Seins und es ist inmitten von uns. Es ist die Hülle des Kosmos, die Hülle des Seins, die Hülle von uns. Es füllt den Raum des Kosmos, den Raum des Seins, unseren Raum. Doch wenn man es sehen will, so kann man es nicht direkt sehen, man kann nur die Erscheinungen wahrnehmen. Es ist für sich leer, nicht wandelbar. Es ist als einziges unzerstörbar. Raum und Zeit sind unendlich, sich stets wandelnd im Kreislauf des Yin und Yang, im Kreislauf der Natur und des Lebens.

 

Wenn man die Erscheinungen wegdenkt und nichts mehr ist, das man wahrnehmen kann, dann kann man es, das Tao, in seiner Wahrhaftigkeit wahrnehmen.“

 

Meister Choi fragte: „Das Leben, wenn es so schön ist, kann man es wahren?“

 

Hanaskea antwortete: „Tod und Vergänglichkeit gehören zum Kreislauf der Natur, zum Kreislauf des Lebens. Wer sein Ende verhindern will, der kennt das Gesetz des Kreislaufes der Natur nicht. Es ist gegeben, dass Leben und Tod einander abwechseln. Tod ist eine Art Heimkehren. Das Körperliche geht zurück zur Erde, denn es ist ein Teil der Erde und das Geistige geht zurück zum Himmel, denn es ist ein Teil des großen Himmelsgeistes. Erde und Himmel sind die wahren Wesen des Menschen. Wie sagte Liezi, Meister Lie:

 

„Der Geist geht ein zu seinen Toren,

 

Der Leib kehrt heim zu seiner Wurzel,

 

Wie soll ich das dauern können?“ [11]

 

Lebt man im Einklang mit der Natur, innen wie außen, wird man sicher sein Leben nicht vor seiner Zeit beenden. Alles hat damit seinen Platz in dieser höchsten Ordnung der Natur, die in ihrer Gesamtheit nie gleich ist, obwohl sie doch die höchste Ordnung ist, alles umfasst und in allem enthalten ist.

 

Alles hat damit seinen Sinn, seine Bestimmung, sein Wesen, und dadurch seine Aufgabe in der Welt des Himmlischen und in der Welt des Irdischen. Das Tao offenbart sich durch das Wesen der Natur.

 

Alles fügt sich ineinander. Alles Leben, alles Sein, alles Nicht-Sein, alles ist verbunden durch das Tao. Es ist eine Kraft, die keine Kraft ist, da sie auch ohne Kraft einfach IST. Auch im Nicht-Sein IST es, das Tao. Überall. Es ist aber nicht der Stuhl, sondern es ist das, was den Stuhl ausmacht, und sich dann letztendlich in seinem Aussehen und Wirken offenbart.“

 

Meister Choi fragte: „Es offenbart sich auch im Menschen, ist es so?“

 

Hanaskea antwortete: „Es offenbart sich im Menschen, und es offenbart sich durch den Menschen – durch sein Wesen, durch sein Aussehen, durch seine Gedanken, durch seine Gefühle, durch sein Handeln und durch sein Nicht-Handeln, durch seine Ausstrahlung – und – eben durch seine Liebe, sein Glück und seinen Frieden offenbart sich seine innere Harmonie.

 

Vollkommene Harmonie, vollkommenes Glück, vollkommener Friede, vollkommene Liebe, das alles sind Ausdrucksformen des Tao, denn dann schwingt alles sanft durch den Leitfaden der Mitte. Der Mensch ist glücklich, wenn er in Harmonie mit allem lebt. Er erfährt höchstes Glück, wenn er alles in Liebe und Vertrauen loslässt.

 

Nicht das ewige Streben macht diesen Zustand aus, sondern das Nicht-Streben, das Nicht-Eingreifen, das Nicht-Festhalten, das Nicht-Wollen, eben einfach das Nicht-Tun.“

 

Meister Choi fragte: „Was hat es mit dem Nicht-Tun auf sich, darf ich das genauer wissen?“

 

Hanaskea antwortete: „Wu wei, das Nicht-Tun, das Gegenteil vom Tun, was so viel bedeutet wie Nicht-Eingreifen. Wie Laozi auch einst feststellte, und darin waren er und Meister Kong sich einig, gibt es eine größte Ordnung, die allem innewohnt, im Himmel und in dessen Entsprechung auf Erden.

 

Das Nicht-Tun heißt nicht, dass ich faul und entschlusslos auf meiner Matte liege und alles um mich herum geschehen lasse. Es ist nicht die Trägheit, es ist nicht die Bequemlichkeit.

 

Im Nicht-Tun tu ich, indem ich mich hingebe in tiefstem Vertrauen, in mein inneres Gespür, in meine Mitte, die mein Weg ist, eben in das Tao in mir. In dessen Einklang lebe ich und nicht dagegen.

 

Jedem Menschen wohnt ein eigener für ihn zugeschnittener Weg inne, sein eigenes Tao. Es ist eine Macht in uns, die unser Leben steuert, auf eben diesem Weg. Diese Macht kennt den Weg haargenau und darauf vertraue ich, lasse mich durch nichts beirren und überlasse es dieser Macht, mich zu führen. Ich gebe mich dem Tao hin. Indem ich dies tue, tue ich nicht, denn ich überlasse das Tun der höchsten Macht, die mit meinem Inneren verbunden ist, die mein Innerstes ausmacht.

 

Indem ich mich diesem hingebe, vollkommen, bin ich eins mit meinem Inneren und mit dem Äußeren und ich bin mitten im Tao. Der Augenblick oder die Augenblicke werden zur Ewigkeit.

 

Das ist das rechte Leben in seiner Ganzheit.“

 

Meister Choi fragte: „So kann ich das für die Zukunft planen und lebe im Tao, ist es so?“

 

Hanaskea antwortete: „Nicht in der Zukunft und nicht in der Vergangenheit, sondern im Jetzt ist das Tao, mit all meinen Sinnen, mit all meinem Sein, mit allem Sein der Erde und mit allem Sein des Himmels. Diese Augenblicke des Jetzt sind die Gegenwart und sind zugleich die Ewigkeit. Das Leben im Tao bedeutet das Sehen der Ewigkeit im Jetzt.

 

Das Wu wei, das Tun im Nicht-Tun, sich mit dem Wasser fließen lassen, das Wasser selbst sein, alles seinen Lauf nehmen lassen, ohne es ständig zu bewerten, mit stiller Gelassenheit, ist die große Kunst des Lebens im Geist des Tao. Der Fluss des Wassers wird zum Fluss des Lebens. Der Fluss unseres Lebens, wenn wir uns dem Tao hingeben und von allen Bewertungen und Bindungen lossagen.“

 

Meister Choi fragte: „Kann man das schon frei sein nennen?“

 

Hanaskea antwortete: „Genau, frei ist der richtige Ausdruck dafür. Im Tao sind wir frei, denn es handelt und wir sind. Wir lassen geschehen. Wir beobachten, ohne zu werten. Wir beobachten die Steine, die Wolken, die Vögel…“

 

Da schreckte ich auf, denn er deutete tatsächlich in meine Richtung, entspannte mich aber gleich wieder, da ich sah, dass seine Augen durch mich durchsahen und kein Vogel weit und breit zu sehen war. Etwas in mir wünschte schon, wohl meine nicht zu leugnende Eitelkeit, wenigstens ein bisschen bemerkt und bestaunt zu werden. Doch das kam ja glücklicherweise noch, nur, dass ich dann abgelenkt sein würde und es mir dadurch nicht mehr wichtig war. Egal. Ich beobachtete jedenfalls die beiden Männer und den Drachen… Ohne Bewertung… Ob ich das schaffte?… Ich bin ein Khyung…

 

 

 

„…Die Bäume – alles um uns herum beobachten wir – ohne Bewertung, einfach so, wie alles IST. Wir sehen den Wind in den Bäumen, sehen, wie die Natur sich stets verändert, Knospen, Blüten, Früchte, Ruhe, alles wandelt sich, nass, trocken, heiß, kalt, Familien, Liebe. Alles sehen wir, ohne Bewertung, ohne Anstrengung, in vollkommener Ruhe des Geistes. So ist es gut, das entspricht dem Tao.“

 

Meister Choi fragte: „Was ist mit den Gedanken, kann ich das Tao mit meinen Gedanken erreichen? Darf ich das erfahren?“

 

Hanaskea antwortete: „Die große Kunst des Tao ist die Leere. Es ist ohne Zeit, ohne Raum und – ohne Gedanken. Leere ist der Urzustand des Kosmos, in dem jedoch von Anfang an alles enthalten ist. In dem Augenblick, in dem wir die Gedanken hinausschicken und wir einfach SIND, überschreiten wir eine unsichtbare, hauchdünne Grenze und unser Geist ist ruhig, ganz ruhig. Es ist still, ganz still. Er ist leer, ganz leer – und voll. Denn – in dieser Leere des Geistes kann man hören, in dieser Leere kann man wieder sehen, wahrnehmen. Das ist der Zustand des wahren SEINs. Das ist der Zustand des Tao.

 

Zhuangzi beschreibt es sehr anschaulich mit der verlorenen Zauberperle: Zhuangzi, dessen Sprache ich gleich einer Blume sehe. Zunächst, einer Knospe gleich, verhüllt, um sich dann Blütenblatt um Blütenblatt dem Leser oder Zuhörer zu öffnen in Zeichen, in Wort und in Bild. Er hat es geschafft, in der Sprache der Blumen zu sprechen und sein Wissen und seine Weisheit mittels dieser uns zu offenbaren:

 

Der Herr der gelben Erde wandelte einst jenseits der Grenzen der Welt. Er kam auf einen sehr hohen Berg und schaute den Kreislauf der Wiederkehr. Da verlor er seine Zauberperle. Er sandte Erkenntnis aus, sie zu suchen, und bekam sie nicht wieder. Er sandte Scharfblick aus, sie zu suchen, und bekam sie nicht wieder. Er sandte Denken aus, sie zu suchen, und bekam sie nicht wieder. Da sandte er Selbstvergessen aus. Selbstvergessen fand sie. Der Herr der gelben Erde sprach: „Seltsam fürwahr, dass gerade Selbstvergessen fähig war, sie zu finden!“ [12]

 

Meister Choi fragte: „Wenn ich denke, dann befinde ich mich doch im Jetzt, verhält es sich nicht so?“

 

Hanaskea antwortete: „Die Eigenart der Gedanken ist, dass sie stets einen winzig kleinen Augenblick hinterherhinken, daher sind sie bereits Ver-gangenheit. Um im Jetzt zu sein, gilt es wie in der Meditation, mittels welcher man das Bewusstsein verändern kann, sich von Gedanken frei zu machen. Dies ist möglich, indem man sich auf die Leere konzentriert. Durch Medi-tation kann man den Strom der Gedanken unterbrechen und den Geist lenken. Erst, wenn kein Gedanke mehr zu sehen ist, auch nicht der Gedanke der Leere, schwebt man in dem schwerelosen Raum des Geistes, im Tao. Dann ist man frei. Im täglichen Leben kann man dem Tao begegnen, wenn man ohne Absicht und Willen einfach IST.“

 

Meister Choi fragte: „Ohne Vertrauen ist es undenkbar, sich vollkommen dem Tao zu überlassen. Das verstehe ich. Doch wie ist es mit dem gemeinen Volk? Wie ist es mit dem Herrscher? Ohne ein Gesetz – wie soll da das Tao möglich sein?“

 

Hanaskea antwortete: „Wenn das Tao überall gelebt wird, dann sind Gesetze nicht nötig, denn jeder ist fleißig aus sich selbst heraus, jeder arbeitet aus sich selbst heraus, jeder lernt oder ruht aus sich selbst heraus. Niemand übertreibt und niemand lebt unter seinen Fähigkeiten. Jeder genügt sich selbst und braucht weder sich noch anderen etwas zu beweisen. Selbst Räubern wird das Rauben keinen Spaß mehr machen, denn der Obere zeigt ihm, dass jeder Verantwortung aus sich selbst heraus trägt. Daher wird auch dieser sich rasch seiner wahren Fähigkeiten bewusstwerden und denen nachgehen, statt sich selbst mit Räuberei zu betrügen. Freude und Leid tragen und sich nicht ihnen hingeben, das ist die Kunst im Leben. Verlust und Sieg tragen, das ist die Kunst im Leben und nicht, sich diesen hinzugeben. So hält man den Sieg, weil man den Verlust überwindet. So hält man die Freude, weil man das Leid überwindet.

 

Nicht die Vollkommenheit in anderen Dingen suchen ist das Höchste, sondern Genüge im eigenen Selbst zu finden, das, so sagte schon Liezi, der es selbst so weit gebracht hat, dass er sich mit seinem Körper von der Erde erheben konnte. Liezi, ja auch er war wie Laozi und Zhuangzi ein Zhenren, ein wahrer Mensch.“

 

Hanaskea lächelte seinen Vater von der Seite an und fügte hinzu: „Wie Meister Kong.“

 

Meister Choi sagte und fragte: „Zhenren, āi, āi, jaja. Doch was ist mit dem Besitz, denn Besitz mehrt der Mensch, wenn er fleißig ist?“

 

Hanaskea antwortete: „Der Mensch kann sich durchaus des Besitzes erfreuen. Der Unterschied ist, dass der Besitz ihn nicht besitzt. Er kann mit Freude geben und mit Freude nehmen, doch er zielt es nicht darauf ab und er erfüllt damit nicht einen Selbstzweck. Sieht er einmal, dass er einen Fehler gemacht hat, so schaut er sich diesen an. Doch dann verstrickt er sich nicht in endlose Grübelei, sondern belässt es so, wie es ist und wird durch sein stilles Erkennen, diesen Fehler nicht wieder tun. Indem er von diesem Fehler ablässt – ihn nicht einfach verdrängt. Das ist wichtig. Ihn ansehen, ganz genau, um ihn dann loszulassen. So findet das Innere rascher eine Lösung. Denn er bewertet es nicht, auf dass es sich festsetzen kann. Nichts lässt er an sich festsetzen, auch keine Gedanken, die er für seinen Besitz hält, von keiner Richtung, so hält er sich frei und beweglich.

 

Meister Choi fragte: „Was ist mit Freude, ohne Gedanken, wie ist das möglich?“

 

Hanaskea antwortete: „Es ist etwas, das du einfach ausprobieren kannst. Und du kannst es, denn es gibt viele Überschneidungen in unserem Denken. Tu es dem Edlen gleich. Wende dich dem Gesetz des Höchsten zu und wenn du dich ihm zuwendest, lässt du in diesem Moment alle Gedanken an Recht und Sitte los. Dann kommst du auf den Weg, der dich frei macht, frei und ebenso edel – doch – ob du edel bist oder nicht, ist dir gleich, denn du siehst alles ohne Bewertung. Alles fällt von dir ab, alle Pflicht, alle Regeln, alle Etikette, jeder Anstand, alle Bindungen jeglicher Art, die dich auf der Erde festhalten. Dann erfährst du das Raumlose, Zeitlose, Gedankenlose – Freiheit, Leichtigkeit und unsagbares, grenzenloses Glück – und bist voller Lebensfreude und alles kann geschehen, wie es geschehen soll.

 

Meister Choi fragte: „Wie gut, dass ich die Gefühle noch behalten darf, wenn die Gedanken schon verbannt werden müssen; Liebe wäre doch sonst nicht möglich?“

 

Hanaskea antwortete: „Liebe ist möglicher denn je, denn Liebe ist bedingungslos. Liebe ist kein Besitz, kein Ding, das man tauschen kann. Du kannst dich ihrer erfreuen, aufs Tiefste, einfach, weil sie IST. Liebe kann nicht erzwungen werden, durch nichts und niemanden. Liebe kann erst wahrhaft wachsen durch loslassen. Ohne Abhängigkeiten. Gefühle sind wichtig, denn durch ihr Erkennen, kann der Mensch sich dem Tao nähern. Leugnet er sie, lässt er sich hinreißen und entfernt sich. Der Mensch sieht sich die eigenen Sonnenseiten an wie die eigenen Schattenseiten. Die Ängste werden an die Oberfläche geholt, um sie dann loszulassen, damit der Weg zur eigenen Mitte wieder frei wird und damit der Weg zum Tao. Wie gesagt, aber auch dies, ohne es anzustreben, denn es wird kommen, einfach weil dies der Weg des Tao IST. Das vollkommene Loslassen, die vollkommene Hingabe, das Erfahren des Tao ist ein Gefühl des höchsten Glücks, der höchsten Liebe: schwerelos, hell, leuchtend, frei.“

 

Meister Choi fragte: „Für mich kann ich es mir vorstellen, für das Volk jedoch nur schwer. Aber es ist möglich, wenn es geleitet wird, denn woher sollten sie es sonst kennen?“

 

Hanaskea antwortete: „Die äußere und innere Unabhängigkeit ermöglicht es, im Tao zu leben. So gilt es loszukommen von jeglichem Besitz und von jeglicher Macht, um sich einzulassen in das tiefe Vertrauen der Natur gegenüber und das, was die Natur sich wandeln lässt, eben das Tao. Die Herrschenden zeigen dies dem Volk im NichtHandeln, damit das Volk sich wandelt. Sie zeigen es dem Volk in Stille, damit das Volk gerecht wird, ohne Gewalt, damit das Volk reich wird und ohne Begierden, damit das Volk einfach wird.

 

Oder wie sagte es einst Zhuangzi, dass es keinen Unterschied gäbe zwischen dem Pferdehüten und dem Regieren der Welt – man müsse einfach festhalten, was den Pferden schade.“

 

Meister Choi sagte: „Wenn das Volk erst edel ist, ist es wahrhaft leicht zu regieren. Doch was kann man tun, wenn die Zeiten und die Umstände einfach nicht die rechten sind?“

 

Hanaskea antwortete: „Wenn solche Zeiten und Umstände sind, und das Wirken des Tao auf breiter Ebene gänzlich unmöglich ist, dann verbleibt, dass man die Wurzeln tiefer treibt, um sie zu wahren, um zu warten in vollkommener Stille.“

 

„Meister, du bist wie ein wandelndes beschriebenes Bambusblatt, nein, wie eine ganze Sammlung Bambus-Faltbücher, so fest bist du in deinem Wissen, dass es mir Freude bereitet, dich weiterzufragen“, sagte Meister Choi anerkennend.

 

Hanaskea nahm es gelassen hin, weder mit Freude über diese erste Anerkennung seines Vaters und Meisters überhaupt, noch mit einem eventuellen Unmut über das lange Frage-Antwort-Spiel, das wohl einer Prüfung glich. Er beantwortete ihm weiter und weiter jede Frage.

 

So gingen sie und sahen fast nichts von dem, was um sie herum war. Sie bemerkten nicht die plötzliche Kälte, den scharfen, eisigen Wind, bemerkten nicht den Sonnenschein, der eine Hitze brachte, dass sie eigentlich nur so hätten dahinschmelzen müssen. Sie bemerkten nicht die vorüberziehende Yak-Herde und den Mastiff, den Hirtenhund, der die Herde zusammenhielt und alles anbellte, das Gefahr für die Herde darstellen konnte. Normalerweise war mit diesen Hunden nicht zu spaßen, denn sie bissen ohne vorzuwarnen, doch durch ihren unbeirrten Gleichmut schienen sie die beiden Wanderer mit ihren Tieren nicht als potentielle Gefahr zu erkennen und ließen alsbald von ihnen ab. Jeden anderen, der sich so nah an die Herde gewagt hätte, hätte dieses bissige Tier sofort angefallen.

 

Sie sahen nicht die Horde Ye-Affen mit ihren langen Schwänzen an den Felswänden klettern, nicht die flinken Gazellen und nicht den in der Ferne vorüberziehenden Schneeleoparden. Sie nahmen keine Gefahr wahr und auch nicht die Schönheit und Tiefe dieser Kora. Solche Menschen habe ich hier in meinem ganzen Dasein noch nicht gesehen!

 

Dann schließlich sagte der Schüler Hanaskea seinen letzten Satz: „Nun ist all mein Wissen erzählt, ich habe es beim Laufen an die weiße Schneepyramide dort oben abgegeben. Ich fühle eine Leere in mir, die schöner nicht sein kann und ich weiß nun, dass alles, was ich in die Leere gebe, sie nicht füllen, sondern die Leere nur noch vergrößern wird. Es fließt durch mich! Ich fühle mich wohl, mein Vater und Meister. Eigentlich bedarf es keiner Worte, um zu lernen, wenn wir nur unsere Augen öffnen!“

 

Meister Choi sagte: „Ich habe keine weiteren Fragen.“

 

 

 

Und seit diesem Zeitpunkt schwieg der Meister der Gelehrten.

 

Sein Sohn ging ebenso schweigend neben ihm. Der erste Moment war wie immer befremdend, da wartete er ein wenig ab, ob sich doch nach kurzer Zeit eine sprachliche Regung zeigen würde. Doch dann merkte er, dass sein Vater und Lehrer schon ganz in der Welt der Gedanken versunken war. Er bewunderte seine Fähigkeit, im Gehen in eine tiefe Meditation zu verfallen, wobei der Berg, die Höhe des Berges und die damit verbundene Nähe zum Himmel dies hier sicher unterstützten.

 

Hanaskea ging daher auch seinen restlichen Gedanken nach. Vielmehr, er schaute sich diese Gedanken an und verabschiedete sich von ihnen. Einen Gedanken nach dem anderen schwebten sie davon, lösten sie sich auf, um so die volle Kraft dieses Ortes in sich aufnehmen zu können. Anfangs kamen noch Gedanken wieder hoch über das Gesagte, über ihren Weg, und über das, was wohl kommen würde.

 

Immer mehr gelang es ihm, einfach so, alle Gedanken davonfliegen zu lassen, als seien sie Vögel, die lange in einem Käfig eingesperrt waren und nun endlich in die lang ersehnte Freiheit fliegen konnten.

 

Als sie alle frei waren, spürte er, dass die Leere leicht war, leicht und weit und hell.

 

Und so kam die Leere über ihn.

 

Das Gefühl für ihn war, als würde er auf einmal nicht mehr selbst gehen, als würde er getragen.

 

Er ging lächelnd und fühlte das Lächeln der Gegend um sich herum, fühlte sich verbunden mit ihr, mit jedem Stein und jedem Sandkorn, mit jeder Pflanze und jeder Ameise, mit den Yaks und den Wolken, mit allen Geistern, Göttern und Dämonen, mit der Weite des Himmels – und mit der kristallenen Spitze dieses heiligen Berges.

 

Er sah mich. Im selben Augenblickt löste mein Bild sich wieder auf, mit allem, was mich umgab.

 

Er hatte sich selbst aufgelöst.

 

Er hatte alles um sich herum aufgelöst.

 

Er war tief beglückt und ein paar Tränen offenbarten ihm das Unfassbare als fassbar, das Unbegreifliche als begreiflich, das Unsichtbare als sichtbar, das Unerkenntliche als erkenntlich und das Nicht-Wahrzunehmende als wahrnehmbar, wahrer denn je.

 

Geborgenheit, Glückseligkeit und tiefe Wonne breiteten sich in ihm aus.

 

Er fühlte, dass er IST.

 

Früher, gestern noch, rief er bei den kleinsten Anzeichen dieses Gefühls sofort: ‚Meister, Vater, Meister, Meister! Das ist es! Ich verstehe jetzt!’ und sein Meister und Vater antwortete stets ‚Wenn du verstehst, warum schreist du so?’“

 

 

 

Der Khyung nickte zufrieden:

 

„Jetzt versteht Hanaskea, er ist die tiefe Ruhe selbst, er ist angekommen und braucht keine Bestätigung mehr.

 

Das sehe ich ihm an – welch ein schönes Gesicht. Welch eine schöne Erscheinung geht dort unten! Auch für mich sind solche Menschen ein wunderschöner Anblick und Wohltat für die eigene Geisterseele.

 

So sind sie unterwegs, ohne ein Wort zu wechseln. Meister Choi, in sich gekehrt, weil er nachdachte, Hanaskea, ohne ein Wort zu denken, denn es war so, wie es war. Es gehörte zum Fluss des Seins. So denken sie, die Männer aus dem fernen Staate Han.

 

Doch ich bin sicher, sie werden die Kora, die Umrundung dieses Berges, irgendwann noch einmal beschreiten. Dann, wenn sie auch deren tiefen Sinn verstehen möchten und sich von Anfang an auf diese Art der inneren Reise einlassen. Obwohl ich sehe, dass es auf der Erde wohl unzählige Möglichkeiten gibt, den tieferen Sinn des Lebens zu ergründen und darin aufzugehen, wie ich es soeben bei Hanaskea beobachten durfte. Und es bewies die Kraft des Berges, dass dies eben, auch nachdem sie diesen Pass überstiegen hatten, geschehen konnte.

 

Die Überquerung des Dölma La ist die schwierigste und wichtigste Stelle bei der Umrundung des Berges, da es die höchste Stelle der Kora ist. Ein beschwerlicher, steiler Aufstieg führt zu diesem Pass, mit immer kalten Temperaturen und oft mit Schneestürmen und schmerzenden Winden. Die beiden Männer aus Han schienen die Geländestufen hinaufzusteigen und den Pass zu überqueren, ohne ihn wirklich wahrzunehmen. Das war bemerkenswert! Einige schon hatten an diesem Ort ihr Leben gelassen, denn das Wetter, die Höhe und die Klu, die Wassergeister, kannten hier kein Erbarmen.

 

Hier, bei der Überquerung dieses Passes, wacht die weibliche Gottheit Dölma oder Tara. Sie war einst aus den Tränen des Bodhisattvas Avalokiteshvara entstanden, die dieser aus Mitgefühl mit dem Leid aller Wesen vergossen hatte. Bodhisattvas waren diese wundervollen selbstlosen Wesen, die, bevor sie selbst ins Nirwana eingingen, immer zur Erde wiederkehrten, um auch anderen Wesenheiten zu helfen, aus dem Kreislauf des Leides, aus dem ewigen Kreislauf des Lebens, den endlosen Reinkarnationen, eben aus dem Kreislauf des Samsara auszusteigen.

 

Avalokiteshvara, der große Bodhisattva des universellen Mitgefühls, beschützte langsam aber sicher das ganze Schneeland. Avalokiteshvara im Aspekt der Tara, sie war die beim Überqueren Helfende, die Retterin, die Befreierin und es ging nicht nur darum, diesen Pass zu überwinden, sondern vielmehr darum, zur anderen Seite des Pfades der Erkenntnis zu gelangen. Sie war es, die die Neugeborenen empfing. Sie geleitete sie hinüber zu ihrer Wiedergeburt, durch das Überschreiten des Passes.

 

Auch zuvor legten Meister Choi und sein Schüler sich unten beim Leichenacker Shiva-tsal nicht regungslos hin und starben einen symbolischen Tod, um ihr altes Leben hinter sich zu lassen und legten daher auch kein äußeres Zeichen auf den Leichenacker, eine Haarlocke, ein Stück Stoff oder einen Tropfen Blut.

 

Sie drängten sich nicht durch den Felsen mit seinem tunnelartigen Durchgang, dem Dikpa Karnak, die Prüfung des Karmas, die Prüfsteine der Seele, das Maß der Sünden. Denn nur ein Mensch frei von Sünden passte durch diese Höhle. Ein sündiger Mensch blieb stecken, egal wie dick oder dünn er war.

 

Sie verehrten den Felsen der Dölma auch nicht, denn sie kannten ihn nicht und nahmen die Fähnchen und zugeschneiten Opfergaben auch nicht wahr.

 

Sie hatten kein Problem, den schmalen Pfad, der in kürzester Zeit zugeschneit war, zu finden.

 

Sie gingen einfach, und gingen.

 

Sie sahen beim Abstieg nach dem Pass nicht einen der vier unveränderlichen Nägel, die Buddha, als er den Berg mit seinen 500 Arhats, den Heiligen oder Würdigen, die nach dem Erreichen des Nirwana nicht mehr wiedergeboren wurden, im Boden verankerte, damit der Berg nicht wegfliegen konnte. Der Berg war nämlich eigentlich federleicht. Zudem wollte er ein für alle Mal verhindern, dass Dämonen den Berg wegtragen konnten, wie sie es schon versucht hatten. Von ihren Seilen entstanden tiefe Rillen im Felsgestein an der Nordwand des heiligen Berges. Welch ein Glück, dass Buddha das abwenden konnte!

 

Sie sahen auch nicht die völlig andere Landschaft, die sich danach vor ihnen aufgetan hatte: das kräftige Grün der Wiesen und den Berg des Medizin-Buddha, an dessen Felswänden heilkräftige Steine zu finden waren und vor ihnen die verschiedensten Heilkräuter.

 

Sie sahen nicht die Regenbogenstrecke und nahmen sich auch keine kleinen farbigen Felsbrocken mit.

 

Selbst als sie den Weg begonnen hatten, hatten sie den besonderen goldgelben Farbton des Sandes nicht in sich aufnehmen können, natürlich weil sie währenddessen unaufhörlich geredet hatten.

 

Sie waren nicht einmal niedergefallen, als sie den heiligen Berg hinter den ganzen Felsvorsprüngen sichteten. Meister Choi nahm einfach nichts um sich herum wahr, redend oder schweigend. Ich könnte sie als hoffnungslosen Fall bezeichnen, doch die letzte Strecke schien sein Sohn seine Augen wieder für die Schönheit auch im Äußeren zu öffnen. Er fand sie über den Weg durch sein Inneres.

 

So beging jeder Mensch auf seine eigene Art diesen Pfad um diesen Weltenberg.

 

 

 

Die Gruppe mit den beiden Frauen und dem Jungen gingen die Kora um den Berg Kang Tise, den sie als Berg Meru sehen, das Zentrum des Universums, das Zentrum eines Welt-Mandalas, der Nabel der Welt, Quelle des Lebens. Ihm entsprangen vier Flüsse, die Fruchtbarkeit und Leben im Überfluss brachten, überall dort, wo sie hinflossen. So stand es schon in den alten heiligen Schriften des Wissens, den Veden, geschrieben. Der Indus, der im Norden des Kailash aus dem Löwenmaul entsprang, der Sutlej im Westen aus dem Elefantenmaul, im Osten der Yarlung Tsangpo aus dem Pferdemaul und im Süden der Karnali aus dem Pfauenmaul.

 

Die drei aus dem Land der Maurya und einem noch entfernteren Land gingen in tiefer Verbundenheit mit den Göttern und mit Buddha. Sie befanden sich in einer ganz andersartigen Welt als die Männer aus Han. Beide Frauen waren Buddha zugewandt, doch wie auch dieser einst, so lebten sie in den gesellschaftlichen Strukturen, die einst vom alten Kult der Brahmanen, der Priester, geprägt worden war. Und dieser wiederum wurzelte in dem großen Wissen der vedischen Schriften der Weisen der Vorzeit. Veda, das bedeutet so viel wie Wissen.

 

Der Berg Meru vereinte Himmel und Erde und war der Thron von Shiva und Parvati, die diese große Vereinigung symbolisierten. Parvati war die Tochter des Himavats, der Verkörperung des unvorstellbar großen Gebirges um den heiligen Berg Kang Tise und des ganzen Schneelandes. Shiva, der Gott der Zerstörung und Erneuerung, gehörte zur Dreiheit der Götter, den Drei Gestalten, zusammen mit Brahma, dem Schöpfergott und Vishnu, dem Erhalter. Alle drei ergänzten einander. Sowohl Shiva als auch Vishnu trugen jeder ihre gegensätzlichen Aspekte in sich. Shiva trug also ebenso den erhaltenden und Vishnu ebenso den zerstörenden Aspekt. Shiva, Vishnu und Brahma standen mit den fundamentalen Prinzipien des Kosmos in Verbindung. Sie drückten die kosmische Kraft aus, Brahman. In ihrer Einheit wurden sie zu einem Gott mit drei Köpfen und sechs Armen. Die Hände trugen jeweils einen Wasserkrug und eine Gebetskette des Brahma, Wurfscheibe und Muschel des Vishnu sowie Dreizack und die kleine Doppeltrommel des Shiva.

 

Doch alle drei Götter konnten nur in ihre volle Kraft gelangen, wenn sie in Verbindung mit ihren göttlichen Gemahlinnen waren, so wie Shiva die Göttin Partvati, die mütterliche Gottheit in ihrem sanften, lebensspendenden Aspekt oder auch mit Durga, ihrem kriegerischen und zerstörenden Aspekt, hat Brahma die Göttin Sarasvati als weibliche Seite, die Göttin der Kunst und Wissenschaft, und Vishnu die Göttin Lakshmi als Göttin des Glücks, des Reichtums und der Schönheit. Die weiblichen Gottheiten verkörperten die göttliche Energie, die Shakti, ohne die die Götter ihre Funktion nicht erfüllen konnten.

 

Shiva und Parvati in ihrer Vereinigung wurden zu Ardhanarishvara, welche die Einheit von beiden ausdrückt.

 

Dazu fällt mir ein kurzes Gespräch ein, das ich zur Erklärung noch hier einfügen möchte.

 

Der Bön-po Ushlaran fragte Salana aus dem Reich der Maurya:

 

„Wenn ich eben unterbrechen darf, ich möchte nur einmal des Verständnisses halber nachfragen: Shiva tritt, wie du eben sagtest, in sehr gegensätzlichen Aspekten auf. Zudem gilt er als Meister von Entsagung und Askese. Auf der anderen Seite sieht man ihn oft in Vereinigung mit seiner göttlichen Partnerin Parvati. Dies ist an sich ein Widerspruch. Sicher ist dieses nicht so zu bewerten?“

 

Salana erklärte ihm daraufhin:

 

„Es ist das Zeichen seiner hohen Göttlichkeit, denn er schafft es, das für uns Menschen widersprüchliche Verhalten weise aufzunehmen und über den Bereich der Welt in den Bereich des Himmels zu übertragen, vor allem in der Vereinigung mit Parvati, mit ihrem Aspekt vereint als Einheit durch die Verschmelzung.

 

Auf dem Berg Meru ‑ und damit hier auf diesem Berg Kang Tise ‑ sieht man oft auch die ganze Götterfamilie sitzen: Shiva und Partvati zusammen mit ihren Kindern Ganesha, einem elefantenköpfigen Kind, und Karttikeya. Karttikeya wurde aus dem Ganges geboren, als Shivas Samen in den Fluss fiel, da die Götter die äonenlange Liebesverbindung zwischen Siva und Parvati unterbrachen. Karttikeya wurde der Kriegsgott, der die Welt vor dämonischen himmlischen Wesen retten sollte, die die Welt tyrannisierten. Man sieht ihn oben mit seiner ganzen Ausrüstung auf einem Pfau reitend, mit Pfeil und Bogen und seinem heiligen Speer, der aus Teilen der Sonne gefertigt wurde. Mit diesem Licht-Speer vernichtet er die Feinde der Unwissenheit und kämpft für die Erlangung der Erlösung, Moksha.

 

Ganesha, einst ein kleiner Junge, von Parvati aus eigener Kraft erschaffen, wurde als Wächter vor die Tür seiner Mutter gesetzt. Er versperrte daher Shiva die Tür, als er eintreten wollte, doch dieser schlug dem Kind den Kopf ab. Als er merkte, dass es sich um Parvatis Sohn handelte, ließ er sofort von seinen Dienern einen Kopf des ersten Lebewesens, das sie sahen, bringen und setzte diesen dem Kind wieder auf. Seitdem hatte Ganesha einen Elefantenkopf. Er gilt als Setzer und Entferner von Hindernissen. Viele lieben ihn, denn er symbolisiert auch Weisheit und Intelligenz und bietet Schutz. In den Pujas, den Gottesdiensten, beten viele ihn an, wenn sie für ihren Weg oder eine Unternehmung Glück brauchen. Das erste, das in ein neues Haus kommt, ist eine kleine Statue von Ganesha, denn er segnet das Haus, segnet den Neuanfang und bringt Glück.“

 

So teilte ich meinen Berg mit vielen, mit allen Göttern, Geistern und Dämonen, die die Menschen sahen. Es war zu manchen Zeiten ein reges Kommen und Gehen. Ein Reich für sich allein zu haben war auch schön, aber langweilig. Wenn Frieden war unter den Menschen, war auch Frieden in der geistigen Welt und jeder konnte seine ihm angedachte Funktion ausüben, wie und wann er mochte.

 

Die kleine Gruppe mit den beiden Frauen und dem Jungen umwanderten ihren Berg Meru, diesen heiligen Berg Kang Tise, in welchem sie wegen dessen Form den ShivaLingam sahen, den Phallus des Shiva. Shiva, der Gott der Zerstörung und Erneuerung, der die unerschütterliche und absolute Bewusstseinskraft des Universums symbolisierte und stets in Form eines Lingams verehrt wurde. Die Umrundung selbst sahen sie als Zeichen der Yoni, des weiblichen Geschlechtsorgans und versinnbildlichte die Vereinigung mit der weiblichen Kraft der Shakti, der göttlichen Energie.

 

Sie erhofften, durch diese rituelle Umwanderung große religiöse Verdienste zu erlangen, die ihnen in diesem Leben und im nächsten Leben mehr Glück im Sinne der Lehre des Buddha versprach.

 

 

 

Die Familie aus Zhang Zhung, die momentan ebenso die Kora beschritt, kannte diesen Pfad gut. Es war der Pfad, den bereits ihre Ahnen gegangen waren. Sie kannten die Götter, die Geister, die Dämonen, die hier wohnten und gingen, um sie zu ehren und sie für sich und ihre Familie wohlzustimmen. Für sie war der Berg das Zentrum von Zhang Zhung und damit der heilige Thron ihrer Gottheiten. Sie gingen seit Anbeginn links um den Berg herum, alle anderen entgegengesetzt. Sie nannten den Berg auch Yundrung Gutseg oder, seit noch nicht langer Zeit, Kang Rinpoche – kostbares Schneejuwel.

 

GShen-rab mi-bo [13], ursprünglich aus dem Land Olmo Lungring, auch Shambhala oder das weite Land der Überlieferung genannt, hatte die Lehren des Yungdrung-Bön vor vielen tausend Jahren auf die Erde gebracht. Vor etwa 1.600 Jahren stieg er ein einziges Mal aus seinem himmlischen Reich auf die Erde hinab, hier auf den Weltenberg Meru, den Kang Tise. Hier zu seinen Füßen manifestierte er sich im Körper eines jungen Prinzen von Zhang Zhung. Er untersagte alle blutigen Tieropfer und lehrte die Menschen die Lehre des rDzogs-chen, die über den Weg des Mitgefühls mit allen Wesen den direkten Weg zum Urgrund des Seins eröffnete. Unter ihnen waren wahre Meister im Umgang mit den sichtbaren und unsichtbaren Bereichen, mit Himmel und Erde.

 

 

 

Der Jina-Asket, der jetzt in der Höhle nahe der südlichen Herberge saß und meditierte, hatte auch den heiligen Kang Tise umwandert, für ihn der heilige Ashtapada, und erhielt dafür großen spirituellen Lohn. Er hatte sich schon lange vor Beginn seiner Pilgerreise intensiv durch fasten und meditieren darauf vorbereitet. Er aß nur einmal täglich und hatte kein Pferd oder ein anderes Lastentier zur Hilfe. Er ging von seinem Heimatdorf aus zu Fuß und schlief stets direkt auf dem nackten Boden. Sein Essen bestand aus Brennnesselsuppe, die ihm alle wichtigen Stoffe zur Erhaltung seines Lebens lieferte. Es war immer wieder ein Wunder, wie diese Asketen, nur mit einer dünnen weißen Kleidung vor Kälte geschützt, und meist nicht mehr als noch einer Decke, diese Kora, ohne Schaden zu nehmen, überstanden! Welch hohe geistige Einstellung! Ich schwanke stets zwischen Sorge, einem Kopfschütteln und aufrichtiger Bewunderung.

 

Rishabha, der erste spirituelle Führer der Anhänger des Jina, hatte einst vor langer Zeit auf dem Ashtapada geistige Befreiung erlangt. Rishabha war der erste Tirtankara oder Furtbereiter, wie die Jina die Mittler zwischen der sichtbaren und unsichtbaren Welt, zwischen Himmel und Erde, nannten.

 

Mahavira, der 24. Furtbereiter, begründete wie Buddha fast zur gleichen Zeit eine eigene Lehre. Auch er verließ seine Familie im Alter von fast 30 Jahren und zog sich zurück in Berge und Wälder, um zu meditieren. Nach zwölf Jahren kehrte er zurück und verkündete seine Lehre, um das bestehende System zu Gunsten aller Lebewesen zu verändern. Durch seine Erleuchtung wurde er fortan als Jina, als Sieger, benannt, und ebenso nannten sich seine Anhänger. Sie fielen durch ihre weiße Kleidung auf oder durch ihre Nacktheit, denn manche von ihnen entsagten sogar der ganzen Kleidung. Sie waren einfach in Luft gekleidet.

 

Sie hielten die Götter für nicht unsterblich und diese hätten auch nicht das Universum erschaffen, so sagten sie. Die Götter seien lediglich Lebewesen, die auf eine höhere Bewusstseinsebene gelangt waren. Für sie zählten allein die Worte und Taten ihrer Heiligen, den Tirtankaras.

 

Sie kannten zwei Prinzipien, das Geistige und das Ungeistige. Bewegung, Ruhe, Raum und Zeit zählten zum Ungeistigen. Die unzählig vielen Seelen zählten zu dem Geistigen. Alles aus Stoff war beseelt, Menschen, Tiere, Pflanzen, Wasser… Ursprünglich war jede Seele rein und wurde durch das Karma verunreinigt. So entstand der Kreislauf der Wiedergeburten. Ziel war es, das Karma zu reinigen, um so geistige Erlösung, also Moksha, zu erlangen, in den Himmel aufzusteigen und dort in Ruhe zu verharren, was so viel bedeutete wie das Nirwana zu erreichen.

 

Dies schafften sie durch eine sittliche Lebensweise, durch Enthaltsamkeit, Meditation, Selbstdisziplin und Askese. Dabei mussten sie die Einflüsse alles Ungeistigen überwinden, welches auf die Seele einwirken könnte.

 

Das Wichtigste war ihnen, gegenüber keinem Lebewesen – nicht einmal einer Ameise gegenüber – Gewalt anzuwenden. Daher kehrten sie oft den Weg vor jedem Schritt, den sie setzten, und manche trugen ein Tuch vor dem Mund, um kein Insekt versehentlich zu verschlucken und damit zu töten. Sie lebten das Prinzip von Ahimsa – von Gewaltlosigkeit, Barmherzigkeit und der Wertschätzung des Lebens und Achtung vor dem Leben in jeder Form. Ahimsa war die oberste Regel der Jina. Die Gewaltlosigkeit bezog sich auf alles, auf Gedanken, auf Worte und auf alle Handlungen. Niemand wurde zu Gewalt ermutigt, in welcher Form auch immer. Fürsorge und Liebe waren die obersten Werte.

 

Wenn ein Anhänger der Jina in Zhang Zhung war und in einer unserer unzähligen Höhlen meditierte, gesellte ich mich gern in seine Nähe. Für jedes Wesen, egal welches, war es ein Segen, neben solch einem Menschen zu sitzen!

 

Diese Kora um diesen von so vielen Menschen unterschiedlichen Glaubens verehrten Berg zu gehen, war nach alledem auch für jedes mitgehende Tier, ob Yak, Pferd, Kiang oder Esel, ein Segen, denn sie konnten sicher sein, dass ihnen nun eine Wiedergeburt in einer höheren Lebensform sicher war.

 

Für die beiden Männer aus dem fernen Han und ihre Tiere war es nun nicht mehr weit bis zum südlichen Herbergstempel.

 

Sie begegneten keinem Menschen, kamen an niemandem vorbei, an keinen Yakherden und keinem Asketen, der in irgendeiner Höhle saß und meditierte. Die Höhlen erkannte man nicht immer von weitem, doch vor manchen standen kleine aufgeschichtete Steinpyramiden als kleine Abbilder dieses mächtigen und heiligen Berges Kang Tise. Höhlen gab es hier unzählige.

 

Die Region von Zhang Zhung war von Höhlen durchzogen, in denen die Menschen lebten. Manche dieser Höhlen gaben Nomaden für eine Zeit Schutz, die sie je nach Jahreszeit nutzten, um dann weiterzuziehen. Weiter im Westen gab es ganze Höhlensiedlungen, große, kleine, an den Berghängen, die sich hinunterzogen bis zu einem Fluss oder Bach. Dort befand sich sogar ein Höhlenschloss, dem überaus prächtigen Silberpalast des Khyung, mir zu Ehren, Khyunglung Ngulkar Karpo, die große Festung so mancher Zhang Zhung-Könige mit einer riesigen Höhlenstadt. Dort hatten viele Höhlen noch Vorbauten aus Holz mit schönen Holzschnitzereien und Malereien. Die Täler zu den Bächen oder Flüssen hin waren grün und durch Bewässerungsanlagen mit Reis und Getreide, Gemüse und Früchten bewirtschaftet. Wie abgeschottet von der Welt lagen diese Höhlen allein, um vor Übergriffen geschützter zu sein als an anderen Stellen in Zhang Zhung und im ganzen Schneeland. Nicht nur die Erde selbst schien hier die dort lebenden Menschen zu schützen, sondern auch die Wälder ringsum, die einen Blick von weitem verhinderten und auch von nahem war so mancher an den steilen Abhängen umgekehrt, da er diese Gegend für unbewohnbar hielt.

 

Doch wie es mit der Zeit war, ewig hielten solche Flecken der Harmonie und des Friedens auf der Erde leider nicht, denn der Mensch bewegte sich in einem fort und früher oder später wurde auch die letzte Idylle ausfindig gemacht – und zerstört.

 

Ich werde alles geben, um diese Orte hier zu bewahren! Wenn eine Zeit der Unruhe kam und gar Zerstörung drohte und es schien, als wäre nichts von der glanzvollen Zeit mehr übrig, dann würde ich trotzdem da sein! Ich würde in einer Höhle im Verborgenen warten und erst wieder heraus-kommen, wenn die Zeit dafür gekommen wäre. Denn ich bin immer. Ich, Khyung!

 

Nun wurde es Zeit, denn das Unwetter nahte. Wer wohl hatte die Klu erzürnt, dass sie die Menschen mit einem Unwetter bestrafen und sie mit Wolkenknochen bewerfen wollten? Wenn sie Glück hatten, die Menschen hier unten, hatten sie niemanden erzürnt und die Götter und Dämonen bekämpften sich nur wieder gegenseitig. Sie beschossen sich gern schon bei den kleinsten Streitigkeiten mit Wolkenknochen, oder Steinregen, wie manche diese starken Wurfgeschosse auch nannten, und konnten sich heftigen Schaden zufügen. Den Menschen nebenbei dann allerdings auch, wenn sie sich zufällig gerade in ihrer Nähe aufhielten.

 

Wenn ich mir dieses nahende Unwetter so ansah, dann könnte nur noch ein Wettermacher helfen. Leider konnte ich keinen richtigen Wettermacher hier in der Nähe ausfindig machen, obgleich ich die weiten und schweren Wege um den Berg mit den wenigen Pilgern kritisch beäugte… Es waren auch nur zwei Yakherden in meinem Sichtbereich unterwegs, deren Yak-Hirten sich sicher nicht mit Wetterbeschwörungen auskannten. Das könnte für alle unangenehm werden, wenn nicht sogar gefährlich! Die beiden Männer aus Han kannten sich darin ganz bestimmt ebenfalls nicht aus. Diese Männer würden es eher geschehen lassen, weil ein Unwetter für sie zum Fluss des Wassers dazugehörte und ein Eingreifen nur noch mehr Schaden zur Folge haben würde.

 

Doch! Da sah ich die alte Bön-Schamanin gTanobak! Sie müsste eigentlich das Wetter ein wenig beschwören können… Sie war eine mächtige Frau, denn ein Schneeleopard hatte seine Kraft auf sie übertragen. Sie trug sein Fell. Sie kannte sich bestens aus mit den Kräften des Wassers in welcher Form auch immer. Sie hatten die dunklen Wolken hinter den hohen Bergkämmen immer noch nicht bemerkt, denn sie gingen tief unten im Tal. Wenn sich die dunklen Wolken drohend über die Bergspitzen stülpten, dann müssten sie sich beeilen, um den nächsten Schutz zu erreichen, die südliche Herberge. Dort müsste sie dann sofort mit der Beschwörung beginnen. Einen spitzen Stab hatte sie mit, den sie bei dem schweren Weg als Stütze benutzte, das erkannte ich. Das war das wichtigste Werkzeug beim Wetterbeschwören.

 

Auch wenn die bedrohliche Wolkenfront noch etwas entfernt war, sorge ich mich dennoch um die Menschen, die in meiner Sichtweite noch vor dem Unwetter ungesichert waren. Nichtsahnend und in sich versunken pilgerten sie weiter gemächlich um den Berg. Das war die wahre Ruhe vor dem Sturm. In diesen hohen Bergen konnte das Wetter rasch zu einem nicht zu bändigenden Dämon werden, der sie in kürzester Zeit verschlingen würde!“

 

 

 

Khyung, der große Vogel mit einem Stierkopf, der mächtige Schlangen-töter, die größte Schutzgottheit der Lehre des Bön, flog hinauf auf die kristallene Spitze des heiligen Berges Kang Tise und beobachtete von dort unruhig das Geschehen in allen Richtungen.

 

„Die Unruhe lag in der Luft. Irgendetwas war, das auch mich beunruhigte. Seltsam, das Unwetter allein konnte es doch nicht sein? Mögen sie streiten, die Dämonen, die Geister, die Götter, sich gegenseitig bekämpfen – solange die Menschen in Zhang Zhung in Frieden leben konnten, wäre es mir gleich. Das Wetter war oft in Kampfeslaune und konnte wie ein Gebetsfähnchen im Wind von einem Blick zum anderen die Richtung des Gemüts wechseln. So waren die Launen der Götter, der Geister und besonders der Dämonen. Doch was kam heute auf mich zu? Waren es die Pilger, die mich kümmern sollten? Warum sollte ich mich heute mehr um Menschen sorgen, die mich nicht kannten und mich daher nicht sehen konnten? Bis auf die Menschen von Zhang Zhung und dem Schneeland natürlich.

 

Bislang kam es allerdings noch nicht vor, dass solch eine überaus bunte Volksmischung im Kleinen hier unten gleichzeitig unterwegs war. Aber ich freute mich, dass sie alle hier waren und fühlte mich schon irgendwie für sie verantwortlich.“

 

Der Khyung schwankte mit seinem Kopf unruhig hin und her, die Augen auf die Menschen hier und dort fixiert.

 

„Ja, sehr gut, sie alle hier zu sehen, auch wenn sie mich nicht sehen konnten. Sie und die Fremden kamen alle in Frieden, trugen gute Gedanken in sich, das erkannte ich bis hier oben. Es war wahrhaft ein besonderer Tag!

 

Vielleicht sollte ich ein Auge auf die dMu haben, damit sie die Menschen nicht erschreckten, denn das liebten sie. Hier in diesen Höhen waren solche Spielchen gefährlich. Es gab Abschnitte, da konnte ein falscher Schritt in den tiefen Tod führen. Die dMu scherten sich nicht darum. Geschehen war es schon des Öfteren. Sie sahen auch zum Fürchten aus, nur für Menschen natürlich, diese boshaften Himmelsgeister: schwarz in Gestalt, mit schwarzem Mantel, mit ihrem schwarzen Banner und der Schlinge, die sie schwenkten. Zum Verdursten hatten die dMu auch schon einige gebracht. So konnten sie sein, wenn kein Schutzgott dieser Menschen ihnen entgegen-stand. Die Schutzgötter waren die Kinder der Göttin des Lebens, die wiederum eine der neun Töchter des Weltengottes Sangs po 'bum khri war. Nicht zu vergessen, der Sohn der Schwester der Göttin des Lebens war ebenso eine Schutzgottheit der Menschen. Und eine solche sollte jeder haben, egal ob im Haus oder unterwegs. Nun, es gab hier eine stattliche Anzahl von Dämonen, aber auch eine stattliche Anzahl von guten Geistern und Göttern. Das Leben in Zhang Zhung und im ganzen Schneeland war meist sehr wild und gefährlich.

 

Ich habe mich entschlossen, hier zu leben, in den Lüften um den heiligen Berg Kang Tise, den großen Weltenberg mit seiner weithin strahlenden Kristallspitze, zu der es verboten war – bei Tode verboten – hinaufzuklettern! Dies war mein Reich! Ich teilte es auf keinen Fall mit menschlichen Wesen! Höchstens mit anderen Geistwesen, die von den Menschen als hohe Wesen verehrt wurden. Solange sie friedlich gestimmt waren. Alle fühlten die hohen Mächte, die sich um diesen Berg und auf dessen Spitze niederließen. So blieben die Menschen unten und umwanderten den Berg in sicherer Entfernung, links herum, rechts herum, und die höchsten Götter und Geister verweilten hier. Nur wenige Eingeweihte durften unten nah bis an seinen inneren Ring herankommen. Weiter hoch durften sie jedoch nicht! So sollte es auch für immer bleiben!

 

Viele Eingeweihte gab es noch nicht; die Menschen waren noch nicht soweit. Erstaunt war ich, den jungen Mann aus dem fernen Staate Han zu sehen, der nach nicht ganz einer Runde zu wahrer Erkenntnis gekommen war.

 

Er schien wohl schon sein schlechtes Karma gereinigt oder in seinem Vorleben gute Arbeit geleistet zu haben. Wirklich bemerkenswert! Für einen kurzen Augenblick hatte er mich sogar wahrgenommen…

 

Viele Runden mussten sie gewöhnlich gehen, die meisten, und innere Wandlungen durchleben, innere Erkenntnis erlangen. Lange in sich gehen mussten sie, in den Höhlen, an und um diesen Berg oder den angrenzenden Tälern. Doch auf dem Weg waren sie, die, die in friedlichen Absichten hierherkamen, alle…

 

Ich hörte vom Reich der Maurya, als ich die Gespräche belauschte, denn ich beobachtete neben den Männern aus dem Staate Han auch schon seit mehreren Tagen, wie zwei Frauen und ein Junge, alle viel zu dünn bekleidet, den schon zum Teil recht beschwerlichen Weg um den Kang Tise wanderten. Was hatten sie schon an Leid erfahren! Besonders betraf es die Frau aus Pataliputra am heiligen Fluss Ganges aus dem Reich der Maurya. Es waren nur ein paar Flügelschläge bis dorthin, doch für die Menschen waren die Berge und die Launen eines harten Klimas zu überwinden.

 

Die kleinere Frau mit einem auffällig federnden Gang und ihr dreizehnjähriger Sohn waren schon seit mehreren Wochen auf Elefanten und Pferden unterwegs. Sie kamen ganz aus dem Süden des Maurya-Reiches. Sie mussten sogar noch mit einem Boot von ihrer Insel Tâmraparnî[14] auf das Festland übersetzen. Auch diese drei, die, als sie in Pataliputra loszogen, noch zu viert waren, hatten mein Herz gewonnen. Wenn es ansonsten nicht meine Art war, so hatte ich die Heerscharen der Berggeister gerufen, um ihnen Schutz zu gewährleisten, sie zu begleiten, damit wenigstens ihre weitere Reise in meinem Gebiet ohne weitere Zwischenfälle und Sorgen verlaufen würde. Voller Übermut hatten sie den dreien regelrecht das Essen vor die Nase getrieben, schöne Antilopen, Hasen, sodass der Dreizehnjährige mit jedem Pfeilschuss sicher traf und auch stets das richtige Kraut in ihrer Nähe wuchs. Sie wunderten sich schon ob des großen Reichtums an Nahrung in diesen Höhen. Ich hielt mich natürlich versteckt.

 

Dieser Junge war wahrhaft ein sehr guter Schütze und auch Beschützer der beiden Frauen. Er nahm seine plötzliche neue Rolle sehr ernst. Auch wenn er ein Prinz war und es für ihn ein Leichtes sein sollte, wenigstens zwei Frauen zu beschützen, so hatte er das Leben bisher doch nur von seiner angenehmen Seite im wohlbehüteten Palast erfahren dürfen. Die Strapazen dieser langen Reise, die vielen neuen Eindrücke und die Begegnung mit dem Tod hatten ihn reifen lassen. Dank seiner ausgezeichneten Treffsicherheit hatten sie stets ausreichend zu essen und Felle, die sie bitter benötigten, hier am Kang Tise.

 

Ich weiß von ihrem schweren Weg, den sie gegangen waren, da ich sie so manches Mal beobachtet hatte. Seit ihrem Unglück weichten meine Augen auch nicht mehr von ihrer Seite.

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