Leseprobe aus

SAAT und ernte . Band 1

1. Auflage 2025 

Text: Copyright ©Aina Koregard, www.ainakoregard.de

Verlag: BoD · Books on Demand GmbH,

Überseering 33, 22297 Hamburg, bod@bod.de

Druck: Libri Plureos GmbH, Friedensallee 273, 22763 Hamburg

Covergestaltung ©Aina Koregard

unter Verwendung des Kunstwerks „Monde“, www.lunartis.de 

ISBN Taschenbuch: 9783819246371 

 

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Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird zumeist auf die gleichzeitige Verwendung der Sprachformen männlich, weiblich und divers verzichtet. Sämtliche Personenbezeichnungen gelten gleichermaßen für alle Geschlechter.

 

 

 

 

 

LESEPROBE Seite 9-56.... (von 656 Seiten):

 

100 Jahre Frieden

 

Von allen Seiten strömten Menschen zur Agora, der Versammlungshalle im Ortszentrum des Stadtstaates Cambolia. Es war ein besonderer Feiertag – 100 Jahre Frieden.

Frieden auf der Welt. 

100 Jahre schon konnte der Idealzustand eines friedlichen Zusammenlebens zwischen allen Ländern der Erde gehalten werden. Das Rezept: tägliche Pflege.

Es war eine unglaubliche Meisterleistung der gesamten Erdbevölkerung und deren Regierungen.

Sternförmig führten die Straßen zum Zentrum. Eine Schar unterschiedlichster Fahrzeuge stand vor dem Parkhaus nebenan an.

„Wird deine Mutter die Rede halten?“, fragte Rosuran, ein 15-jähriger Teenager, schwarz-krause, etwas längere Haare, sportlich. Er trug karierte Bermudas mit einem T-Shirt, von dem er wohl die Ärmel abgeschnitten hatte. Das sah man, weil sie ungleich lang waren.

„Logisch. Du kennst sie doch. Das lässt sie sich nicht nehmen“, meinte sein Freund Kyr, ein Jahr älter, mittelgroß, blonde, zottelige schulterlange Haare mit seinem einnehmenden Lachen. Er ging in die gleiche Lehreinheit wie Rosurans Schwester Hanaskea.

„Ist deine Schwester noch nicht da?“, fragte Kyr gespielt lässig und blickte sich um.

„Ha, du stehst auf meine Schwester“, piesackte ihn Rosuran.

„Quatsch. Ich dachte nur, weil ihr sonst meist zusammen eintrudelt. Mir doch egal. Nun geh weiter. Wir sind gleich dran“, lenkte Kyr vom Thema ab und stolperte beinahe über seinen eigenen Fuß.

Sie standen in einer der fünf Reihen vor den fünf Eingängen zum Parkhaus. Ihre Reihe war für Kleinfahrzeuge. Beide hatten Roller. Retro. Nun, sie sahen optisch so aus, wie die Roller damals, hatten nur keine Räder, weil sie flogen. Sie waren leichter und etwas stylischer.

Sämtliche Fahrzeuge waren dank minimalsten, effektivsten Materialeinsatzes ultraleicht, hatten keine Räder und flogen alle, bis auf traditionelle Fahrräder, die sich wie eine Konstante die ganze Zeit behauptet hatten. Die waren auch in Leichtbauweise konstruiert, mit unkaputtbaren Reifen, die keine Reifen waren. Es gab auch keine Speichen, sondern die Räder bestanden aus aerodynamischen Scheiben. Sobald sie standen, begannen sie, die eventuelle Abnutzung am Rand zu erneuern. Reparierten sich quasi von allein. Das taten sämtliche Fahrzeuge.

Das Fliegen über der Erde wurde als Fahren bezeichnet, Fliegen, wenn sich das Gefährt abhob und höhere Flugbahnen zog bis hin in die Weiten des Weltalls. Hover wurden die schwebenden, gleitenden Fortbewegungsmittel allgemein bezeichnet.

Schon bremste eine Teenagerin rasant direkt neben ihnen, indem sie beim Heranfahren kurz ihr linkes Bein absetzte, das Rad schräg zur Seite drehte und mit wehenden, schwarzen langen Zöpfen neben den beiden Jungs schwungvoll zum Stehen kam.

„Manno, musst du uns so erschrecken, Hanaskea?“, meckerte ihr Bruder Rosuran und gab ihr einen Puff. „Außerdem musst du dich hintenanstellen.“

„Danke, dass du mir einen Platz freigehalten hast, Brüderchen. Weitergehen, wir sind gleich dran. Das habe ich doch perfekt getimt. Halt mal eben“, sagte sie laut, dass alle es mitbekamen, und drückte Kyr den Fahrradgriff in die Hand.

„Ich muss noch unsere Snacks auspacken.“ Schon kramte sie in ihrer ebenso aerodynamischen Fahrradtasche, wasserdicht. Ihrem Bruder drückte sie eine große Tüte in die Hand und mit ihrem Finger zwei Mal auf eine Stelle am Rand der Öffnung der Fahrradtasche, die sich darauf von selbst verschloss. Lautlos. Kyr steckte seine Nase in die Tüte und lachte:

„Beste Schwester, die du hast, Rosuran. Ein Wunder, dass du nicht kugelrund bist.“

„Leckeres Essen muss nicht immer dick machen. Außerdem sorgen sie im HdW schon für genug Bewegung. Kannst loslassen, Kyr. Ich wollte nur mal deine Reaktion testen“, neckte sie Kyr, dessen rote Gesichtsfarbe mit seinen Sommersprossen verschmolz.

Es war nämlich vollkommen unnötig, ein Fahrzeug, nicht einmal ein Fahr-rad, festzuhalten, da alle, durch einen mit dem Finger gemalten Luft-Strich an der Seite des Lenkers oder einer sprachlichen Ansage wie: „Fahrrad begleite mich links“, in kurzem Abstand neben dem Fahrer herfuhren, wenn dieser ging, oder es blieb stehen, wenn der Fahrer stand.

HdW war die Kurzform für Haus des Wissens.

„Frechheit. Du hast mich voll überrumpelt“, lächelte Kyr etwas gequält, für eine Sekunde. Er war der fröhlichste und ausgeglichenste Teenager von ganz Cambolia, immer zu einem Späßchen bereit. Nie nachtragend. Wenn es um das weibliche Geschlecht gleichen Alters ging, da setzte es allerdings bei ihm immer mal aus. Vor allem, wenn er jene Person mochte oder er überrascht wurde. Beides, wie es jetzt der Fall war, war doppelt problematisch. Schon stolperte er über seinen Fuß und landete der Länge nach auf dem Boden. Sein Roller hatte sich blitzschnell zur Seite gedreht, so dass Platz war für den freien Fall.

Rosuran half seinem Freund rasch auf.

„Bist eine Sportskanone. Genial gefallen und abgefangen. Ist nix passiert“, lobte er ihn kameradschaftlich auf die Schulter klopfend.

„Dass es immer noch keine intelligenten Auffangmechanismen gibt. So etwas kommt doch ständig vor. Oder es fällt einem etwas herunter. Intelligente Auffangmechanismen würden jedes Material schonen“, meinte Hanaskea. Er tat ihr schon etwas leid.

„Klasse Idee, Schwesterchen. Wenn nicht Holo meine Berufung wäre, würde ich diese grandiose Idee voranbringen. Bringe deine Idee doch mal bei den Stadtplanern vor. Sie sollen einen Fallschutz für Wege programmieren. Dein Vater hat doch gute Kontakte als Architekt, Kyr.“

„Apropos gute Kontakte. Ist es eigentlich sicher, dass Maistir Choi heute während der Feier den großen Wandel des Lebens vollziehen möchte? Sein Lebensfest? Oder hat der Flurfunk das Gerücht gesät?“, fragte Rosuran mit leicht gedämpfter Stimme an Kyr gewandt.

„Ja, das stimmt tatsächlich. So spricht das ganze HdW schon seit zwei Tagen, seit er es Druide Tanobakt gesagt hat. Meine Mutter hatte sich gestern mit Druide Tanobakt bei Maistir Choi getroffen und alles besprochen, wie Maistir sich den Übergang wünscht. Ist das nicht enorm, entscheidet einfach so: ‚Ach, übermorgen ist ein guter Tag zu gehen. Am besten bei der Feier, wo alle zusammen sind‘?“

„Er will tatsächlich mitten unter all den Menschen…?“, fragte Hanaskea flüsternd nach.

„Ja. Genau das wünscht er sich. Und, so sagt meine Mutter, er wird nicht auf der Erde wiedergeboren werden, auch nicht auf einem anderen Planeten, sondern als geistiger Berater für uns und unsere Galaxie zur Verfügung stehen.“

„Großartig! So, wie Maistir Salana. Ist das nicht wunderbar, das Lebensfest in hohem Alter in einer Zeit des Friedens zu erreichen? Er kann ganz ohne Sorgen gehen, wann und wie er es möchte. Er war all die Jahre schon so voller Liebe und wusste immer einen weisen Rat. Das möchte ich auch einmal erreichen“, freute sich Hanaskea.

„Ja, stellt euch das nur früher vor, in diesen chaotischen Zeiten von Kriegen, Zerstörung, diesem Raubbau an der Erde, diesen verdrehten Gedankenkonstrukten und Glaubensmustern, diesen dunklen Machenschaften von Politik, Wirtschaft und Kirche, dieses Ausbeuten von Mensch und Natur, dieses ungerechte…“

„Hey, wir sind gleich dran. Du hast recht. Gut, dass sie damals nicht aufgegeben hatten, sonst gäbe es uns jetzt nicht und es ginge uns nicht so gut,“ meinte Hanaskea und schupste ihren Bruder.

Rosuran drehte seinen Roller quer nach vorn. Ein Transportarm klebte ihn an seine Saugnoppen. Das System hieß Krake. Wie mit dem Arm eines Kraken hievte es den Roller ruhig in eine Art Kraken-Paternoster. Er wurde nach oben gefahren und von einem weiteren Kraken irgendwo eingeparkt. Als nächstes Kyrs Roller, dann Hanaskeas Fahrrad. Ein intelligentes Parksystem, das die Fahrzeuge über fünf Paternoster selbstständig so ablegte, dass sie jederzeit wieder eingehakt und nach unten zum Abholer befördert werden konnten. Es gab eine kleine Markierung auf das Handgelenks-Holo. Fertig. Die neuste Generation Parkhaus konnte sich die jeweiligen Besitzer merken und entsprechend das Gefährt herauspicken und aushändigen. Das Handgelenks-Holo, allgemein Memo genannt, brauchte man nur, wenn eine andere Person zum Abholen kam. Manche trugen das Memo in einem Ring statt als Armband oder Uhrenattrappe, wie es momentan Mode war. Retro. Ein winziger Kristall übernahm alles: Speicher, Sender, Empfänger, Lautsprecher, Mikro, Kontakt zu anderen Memos, von anderen Leuten bis hin zu den größeren Memos, auf denen das Wissen der Welt in Bibliotheken, retro, gespeichert war. Gesteuert durch Sprache oder Fingerbewegungen. Wissensspeicher, Zyklo genannt, von Enzyklopädie, die als Ratgeber genutzt wurden, waren eine Art künstliche Intelligenz auf der Basis von neuronalen Netzen. Sie konnten logisch verknüpfen und durch eine Art Energiescan sogar in den entsprechenden Worten antworten, die der Nutzer auch verstand, also benutzerspezifisch.

Autos oder Flugobjekte in der Größe eines Autos wurden nebenan mit einem Doppel-Kraken-System über einen größeren Paternoster im Parkhaus abgelegt.

Die drei Teens gingen durch einen Säulengang, der mit blühenden Pflanzen umrankt war und den kompletten großen Agora-Vorplatz umrahmte, rüber zur großen Versammlungshalle. Dort fanden auch sportliche Veranstaltungen, Konzerte und Theateraufführungen statt. Über der riesigen Kuppel leuchtete heute 100 Jahre Frieden in großen blauen Lettern anlässlich des Festaktes und war bis weithin sichtbar. Auf ihrer Spitze standen die beiden jetzt gelb leuchtenden Stäbe der Farbuhr eines Kunstprojektes des HdW, Haus des Wissens. Farben zeigten statt Zahlen die Zeit an. Das Haus des Wissens bestand aus mehreren Häusern unterschiedlicher Spezifikationen. Es war Schule, Ausbildungs-, Weiterbildungs- und Vertiefungsort, ähnlich einer Universität. Alles in einem groß angelegten Komplex samt Tempel für die geistige Arbeit der Schüler, der Tiro. Es war wie ein kleines Dorf im Ort. Die ganze Anlage war für jeden zugänglich, ob Tempel, Bibliothek, Sportanlagen oder Stätten für Kunst und Musik.

An der Farbe der zwei großen Leuchtstäbe auf der Spitze der Agora konnte jeder erkennen, egal von wo man schaute, in welcher Tages- oder Nachtzeit man sich gerade befand.

Die Farben der Leuchtröhren veränderten sich gemäß der Zeit. Da Sonnenaufgang und Sonnenuntergang nicht jeden Tag zur gleichen Zeit stattfanden, hatten die jungen Erfinder einen Mittelwert errechnet, nach welchem die Uhr programmiert worden war. Entsprechend der sechs Grundfarben des Farbspektrums, rot, orange, gelb, grün, blau und lila, war ein Tag in sechs gleiche Teile eingeteilt. Die zwei Leuchtstäbe leuchteten in der zeitaktuellen Farbe, wobei ein Stab für eine gerade und der zweite für eine ungerade Stunde leuchtete. Somit hatte ein Tag zwölf Stunden. Nachts das gleiche Spiel.

Ein Tag begann mit rot, sechs Uhr morgens. Das erste Viertel im ersten Leuchtstab, denn die Stunden wurden hier zusätzlich in vier Teile geteilt, leuchtete dann rot. Zur halben Stunde leuchtete der erste Stab bis zur Hälfte rot, dann drei Viertel, dann voll – zur ersten Stunde, sieben Uhr.

Zur zweiten Stunde, einer geraden Stunde, leuchtete zusätzlich der zweite Stab zu einem Viertel, Halb, drei Viertel. Zur vollen zweiten Stunde leuchteten beide Leuchtstäbe rot, acht Uhr. Zur dritten Stunde verschwand das Rot und sie begann im ersten Viertel des ersten Leuchtstabes mit orange; so ging es weiter. Zur Tagesmitte, zwölf Uhr, leuchteten beide Stäbe in Gelb, wie jetzt zu erkennen war, und zum vollen Abend beide Stäbe in lila, sechs Uhr abends. Zu den Nachtstunden das gleiche Spiel.

Sie strömten in die festlich geschmückte Agora. Natürlich waren es Schmuck-Holos, die jederzeit ausgetauscht und dem Anlass entsprechend umprogrammiert werden konnten. Da dies keinen Müll verursachte, keine Ressourcen verbraucht wurden, konnte hier nach Gusto dekoriert und aus dem Vollen geschmückt werden. Der Fantasie waren keine Grenzen gesetzt und es war ein Freudenfest von Farben und Lichtern, Musik und Effekten. Die Programmierer zählten zu den besten Künstlern und Designern des Landes.

„Wir sind hier drüben“, erschien soeben kurz über Hanaskeas Memo das Holo ihrer Mutter Aleyna, heftig winkend.

„Mama, ich kann nicht erkennen, wo du bist, wenn du die Augen-Sensoren nur auf dich und deine Fransen eingestellt hast. Aber ich spüre dich schon auf. Erhalte die Verbindung noch kurz aufrecht“, meinte Hanaskea und scannte kurz mit dem Memo die Halle ab.

„Da vorn sind sie. In der ersten Reihe. Genial“, meinte Kyr.

„Haben euch gefunden. Bis gleich“, meinte Hanaskea. Ihre Mutter verschwand.

„Genial, beste Plätze. Da hatte bestimmt deine Mutter die Finger im Spiel“, meinte Rosuran zu Kyr.

„Nein, bestimmt nicht. Sie kann global denken, aber für Familie und Freunde die erste Reihe besetzen, das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen. Seht da, wer uns zuwinkt. Nun wissen wir, wer dafür gesorgt hat. Jaskula, unsere geschätzte Frau Lehrmeister. Eure Mutter und sie sind ja auch beste Freundinnen“, lachte Kyr und winkte zur Tribüne hinauf.

Die Tribüne hatten sie etwas kleiner und runder als sonst konstruiert, und so weit vorgelagert, dass 203 Personen hinter ihr Platz fanden, auf wabenartigen Balkons, neben- und übereinander. Die Bühne selbst schwebte heute vor diesen im Raum. Jaskula war Lehrmeister ab der 2. Lehrphase am HdW, war im Rat von Cambolia und Hüter des Baumes der goldenen Früchte, weniger poetisch Baum der Erkenntnis, hinter dem Tempel. Sie war eine der Lehrmeister von allen drei Teens.

„Wie macht sie das nur? Man kann sogar von hier aus sehen, dass sie wohl kurz vorher im Garten gewesen ist. Hat sie euch auch erzählt, dass sie ein neues Projekt am Stadtrand plant?“, meinte Hanaskea und grinste.

„Klar, schon drei Mal. Ich glaube, sie wartet auf freiwillige Helfer. Mein Vater hat mir das schon eindringlichst unter die Nase gerieben. Eure Mutter ist jedenfalls schon im Boot“, erzählte Kyr.

„Ich bin sofort dabei. Klar. Ich liebe Projekte! Vielleicht kann ich einen Teil als Nutzgarten abzwacken. Ich meine, integrieren, wäre doch für alle gut. Das läge näher zu unserem Haus als unser Gartenfeld am Ortsrand.“ Hanaskea war immer schnell zu begeistern, wenn es sich mindestens entfernt um ihr Leib- und Seele-Thema Essen handelte. Mit ihren sechzehn Jahren konnte sie schon Festgesellschaften bis zu fünfzig Leuten versorgen, und zwar allerleckerst. Natürlich mit Schnibbelhilfen wie den Küchenkraken. Kraken waren extrem modifizierbar und anpassungsfähig und aus der neusten Reihe der intelligenten biotechnischen Hilfsdienste.

„Da ist sie auch schon“, meinte Hanaskea euphorisch, hielt ihr Memo in die Mitte und Holo-Jaskula erschien schwebend über dem Memo.

„Hallo ihr drei. Morgen früh statt Lehreinheiten Treff bei meinem Gartenprojekt am Stadtrand? Ist nicht weit von eurem Haus entfernt, Hanaskea und Rosuran. Könnt gleich mit eurer Mutter rüberkommen. Was ist mit dir Kyr? Ihr seid doch dabei? Dein Vater kommt auch vorbei. Eigentlich sind Pflanzen auch Gimras Ding, aber sie hat bereits hundert Projekte am Laufen.“

Kyr murmelte unverständliche Laute vor sich hin und Rosuran hatte so gar keine Lust auf Gartenarbeit, wusste aber nicht, wie er das Jaskula abschlagen konnte. Er hatte ihr noch nie etwas abschlagen können. Jaskula lachte herzerfrischend, dass der Erdkrümel von ihrer Wange runterfiel. Das beruhigte alle, denn sie stand immerhin vor aller Augen dort oben.

„Na gut, dann ziehe ich jetzt meine Joker. Rosuran, du darfst uns einen Garten-Zwilling erstellen, einen Holo-Zwilling. Naveen soll dir helfen. Und wer hat sich höchstpersönlich angekündigt?“

Sie sahen sich an und zuckten mit ihren Schultern.

„Wenn alles so sein wird, wie er es geplant hat…“

Keine Ahnung. Sie machte es spannend:

„Mit großer Chance… Maistir Choi.“

Sie standen alle drei sprachlos da und die Augen wurden immer größer. Die Gedanken überschlugen sich wie die Worte, die herausplatzten:

„Was? Maistir Choi? Höchstpersönlich? Kein Holo von ihm? Wie geht das? Wie Maistir Salana? So schnell? Heute noch da und morgen so? Spricht er durch einen von uns oder redet er zu einem von uns? Zu dir, Jaskula? Oder Alena? Oder Ushlaran? Das ist unglaublich. Schön, schräg und verwirrend. Immerhin lebt er jetzt noch…“

„Ich komme, egal wie oder was oder überhaupt. Das wäre so wunder-, wunder-, wundervoll“, meinte Kyr sofort und faltete seine Hände entzückt vor seiner Brust. Rosuran nickte nur eifrig, weil er natürlich bei dem Köderwort Holo-Zwilling sofort dabei war, egal um was es sich handelte, denn er wollte Holo-Programmierer werden wie sein großes Vorbild Druide Tanobakt. Auch seinem Vater Ushlaran, der Architekt war, schaute er jetzt mehr über die Schulter. Maistir Choi so schnell wieder zu begegnen, freute und ehrte ihn natürlich sehr, auch, wenn er das noch nicht so recht glauben mochte. Schließlich lebte er in diesem Moment noch unter ihnen.

Dass er aber mit Naveen zusammenarbeiten sollte, ließ ihn frieren und schwitzen zugleich. Er mochte sie. Sie war Jaskula in jung. Eins zu eins. Die Statur, die selten hellblonden glatten, polangen Haare und die Vorliebe für Pflanzen. Jaskula wusste das natürlich und freute sich, dass sie in Naveen eine passendere Alternative für Rosuran gefunden hatte, die von ihr ablenken sollte.

Schon tauchte Naveens Holo neben Jaskulas auf. Als sie von ihrer Nominierung zum Gartenprojekt erfuhr, freute sie sich sofort. Als Jaskula noch mitteilte, dass sie mit Rosuran gemeinsam an der Partneraufgabe Garten-Zwillings-Holo arbeiten sollte, schoss ihr sofort die Röte ins Gesicht. Bei den hellblonden Haaren fiel es sofort auf, auch wenn sie nur 10 cm groß war.

Kyr preschte sofort in die Kerbe, natürlich, um von sich und Hanaskea abzulenken, denn Rosurans Bemerkung geisterte immer noch in seinem Kopf herum, und meinte:

„Ich sag nur halb 7, wenn ich euch beide so ansehe…“ Rosuran und Naveen sahen Kyr irritiert an.

„Na, euer erstes Kind…“ Bevor die beiden protestieren konnten, wurde er von einem Mitschüler, der neugierig zugesehen hatte, hinter ihnen korrigiert:

„Du meinst wohl gegen 5 Uhr – du weißt doch, dass sich eher die dunklen Gene durchsetzen.“

„Ihr seid unmöglich – ich weiß überhaupt nicht, von was ihr sprecht!“, empörte sich Naveen und fuchtelte mit ihren Händen.

„Absurd!“, wehrte Rosuran mit einer flapsigen Handbewegung ab und federte dabei leicht aufgeregt auf und ab. Das war eine seiner unverwechselbaren Eigenarten. Von weitem hob er sich allein durch seinen federnden Gang von den anderen ab.

Das Schöne an den Menschen war, dass sich derartige Neckereien durch alle Kulturen und durch alle Zeitalter erhalten hatten. Für die Bezeichnung der Hautfarbe war unter den Teens die Einteilung von 0 bis 12 Uhr üblich. 0 Uhr war eine nahezu schwarze Hautfarbe, und 12 Uhr bedeutete eine ganz weiße Hautfarbe. Beides kam nur sehr selten vor, dafür die unterschiedlichsten feinen Nuancen von Brauntönen zwischen Edelbitterschokolade, Halbbitter, Zartbitter, Milchschokolade über Nougat, Espresso, Cappuccino, Latte Macchiato, Mokka, Milchkaffee und weißer Schokolade.

„Deine jetzige Hautfarbe passt nicht ganz in unser Uhrenschema… Nun, wir ergänzen einfach auf…“ Der Junge peilte Naveen spitzbübisch lächelnd an. „Ja, ich schätze mal auf 6-7 Uhr auf der Rot-Skala.“

Rosuran freute sich insgeheim, dass man dank seiner dunklen Hautfarbe sein heißes Gesicht nicht erkennen konnte und stieg voll drauf ein: „Mit der Tendenz steigend!“

Jaskula half der jungen Frau, die schon gar nicht mehr wusste, was sie sagen sollte, auch wenn sie sonst recht selbstbewusst war, natürlich mit einem leichten Touch von Bescheidenheit nach Jordens Visdom-Art. Alle Kinder wurden so erzogen, was in der Teeniezeit hin und wieder entglitt. Die Uhrzeiten für eine Farbeinteilung der unterschiedlichen Brauntöne der Hautfarben war gerade Mode und wurde bei jeder sich bietenden Gelegenheit angewandt.

„Nun wollen wir wieder unsere volle Aufmerksamkeit auf die Rede lenken. Setzt euch rasch. Das große Fest beginnt in wenigen Minuten. Ich bin sehr aufgeregt. Ihr sitzt genau vor Maistir Choi.“ Flupp, war sie ver-schwunden. Flupp, Naveen ebenso. Rosuran kühlte ab und entspannte sich.

Auf der Bühne regte sich etwas. Gimra, Kyrs Mutter, war eine Frau von Anfang 50 mit mittelgrauen, mittellangen gewellten Haaren, die praktisch zu einem Zopf gebunden waren. Sie begab sich auf das Podium. Hinter ihr saßen insgesamt 203 Vertreter aller Länder der Erde, die sich im Globalen Rat zusammengeschlossen hatten. Über jedem schwebte die entsprechende Staatsflagge; über Gimra die 204. Staatsflagge, Cambolia, das sie als Abgesandte im Globalen Rat vertrat. Sie selbst war designmäßig nüchtern grau gekleidet. Durch ihre Kleidung wollte sie indirekt anzeigen, dass sie das Äußere als unwichtig empfand, indem sie sich farblich und stilmäßig zurücknahm. Allerdings wirkte sie dadurch so anders als die anderen in ihrem Umfeld, die eher bunt gekleidet waren, dass sie doch Aufmerksamkeit erregte. Nichtsdestotrotz, eine auffällige Farbe trug sie feierlich vor sich auf ihren Händen – ein zusammengefaltetes azurblaues Tuch. Sie legte es auf dem Rednerpult ab. Das azurblaue Tuch, das alle der 203 Delegierten auf ihrem Schoß liegen hatten, das sie nur zu besonderen Zeremonien trugen. Es gab ansonsten keine Kleideretikette, keine Vorschriften. Das azurblaue Tuch etablierte sich als Symbol für einen feierlichen Akt als Anerkennung, Verbundenheit und Liebe. Heute sprach sie im Auftrag des Globalen Rates.

„Ich wusste gar nicht, dass Grau noch als Farbe gedruckt werden kann. Die Druckdüsen waren bestimmt verwirrt. Gimra wirkt so unglaublich streng. Wenn wir deine Mutter nicht anders kennen würden…“, bemerkte Hanaskea.

Dann standen sie vor ihren Plätzen und blickten voller Ehrfurcht in Maistir Chois warmen braunen Augen, die sie voller Liebe und vollkommenem Glück anstrahlten.

„Hallo Kinder. Wollt ihr mich nicht freudig begrüßen an solch einem perfekten Tag?“, lachte er und strahlte aus mindestens 122 Falten, für jedes Jahr.

Hanaskea beugte sich über den Stuhl zu ihm und reichte ihm die Hand. Maistir Choi hielt sie mit beiden Händen umschlossen fest, schloss seine Augen für einen Moment, öffnete sie und sah sie direkt an. Voller Liebe und tiefem Vertrauen. Hanaskea schluckte, lächelte und nickte ihm zu. Dann löste er seine Hände und hielt sie Richtung Rosuran.

Rosurans Hand umschloss er ebenfalls mit seinen beiden Händen, schloss wieder die Augen für einen Moment, öffnete sie und sah ihn direkt an. Voller Liebe und tiefem Vertrauen. Rosuran wagte nicht zu atmen, lächelte und nickte ihm zu.

Kyr stand wie versteinert und reichte dem Goldenen Alten reflexartig seine Hand. Maistir Choi nickte ihm zu, umschoss Kyrs Hand mit seinen beiden Händen und schloss seine Augen für einen Moment. Noch einen Moment. Dann drückte einmal kurz seine Hand, nickte sich selbst zu und öffnete seine Augen. Er sah Kyr direkt an. Voller Liebe und tiefem Vertrauen. Er löste Kyrs Hand und sprach an alle drei gewandt:

„Ihr habt euer Herz am rechten Fleck. Ihr seid die Zukunft. Ihr seid nun bereit, mit euren Rückreisen zu beginnen. Jeden Monat eine. Zwölf Zeitfenster werden sich für euch öffnen. Zwölf Leben. Zwölf Kulturen, in denen wir uns immer wieder begegnen. Ihr werdet sehen, dass uns eine tiefe Verbundenheit über ein paar tausend Jahre immer wieder zusammengeführt hat. Das wird immer so sein, egal auf welcher Ebene. Ich freue mich und bin dankbar, dass ihr heute bei mir seid.“

Maistir Choi blickte nach links zu Tanobakt, nach rechts zu Elieanor, zu Aleyna, Burgon und Ushlaran, die sich eben zu ihm umgedreht hatten, dann zur Tribüne hinauf zu Gimra und Jaskula und sprach voller Vorfreude:

„Maistir Salana wartet auf mich. Alle sind hier, die mir am Herzen liegen. Jetzt kann das Fest beginnen.“

Er gab mit seinem Stock ein Zeichen, dass Gimra nickte.

Wie ferngesteuert nahmen alle aus der ersten Reihe Platz. Die drei Teens waren wie paralysiert, unterdrückten nur schwer Tränen der Rührung, der Freude und des Abschieds von diesem weisen Mann.

Sie saßen neben Hanaskeas und Rosurans Eltern, Aleyna und Burgon, welcher neben Kyrs Vater Ushlaran saß.

„Alles wird gut, Kinder“, hörten sie hinter sich den Druiden Tanobakt, Kyrs Großvater.

„Alles wird gut“, hörten sie Eleanor, die Großmutter von Rosuran und Hanaskea.

 

Gimra begann ihre Rede:

„Verehrte Bewohnerinnen und Bewohner unserer Erde, Gäa. Im Namen des Globalen Rates begrüße ich heute alle zu unserem gemeinsamen Festtag anlässlich des 100-jährigen Friedens auf unserer geliebten Erde. In jedem Land herrscht Frieden.“

Während sie sprach, erschienen parallel zur Veranschaulichung Holos der beschriebenen Szenen.

„Vieles ist geschehen seit der Zeit der ersten großen Veränderung des menschlichen Lebens. Die Industrialisierung begann vor etwa 400 Jahren, Mitte des 18. Jahrhunderts, und mit ihr einher ging die Beschleunigung der Entwicklung von Technik und Wissenschaft, verbunden mit einer wirtschaftlich erfolgreichen Produktion. Das war der Beginn der Industriellen Revolutionen Mitte des 19. Jahrhunderts. Ich nenne nur kurze Stichpunkte, um uns die gewaltigen Veränderungen aufzuzeigen, mit denen sich unsere Vorfahren in relativ kurzer Zeit hatten auseinandersetzen müssen:

Tausende von Jahren Handarbeit wird zu Maschinenarbeit mit der ersten Spinnmaschine, dann die erste Glühbirne, im großen Stile Energieerzeugung und -umwandlung mittels Dampf, Wasser und Wind. Wir erinnern uns an Dampfmaschinen in der Landwirtschaft, Dampfschiffe, die erste Dampflokomotive, Dampfturbinen. Das erste Flugzeug startete. Massenproduktion am Fließ-band. Kohle und Eisen kamen in Massen zum Einsatz, nicht nur zum Guten. Die Rüstungsindustrie boomte und es kam zu zwei verheerenden Kriegen. Atombomben wurden eigesetzt, Ursache für unvorstellbares Leid. Trotzdem boomte die Rüstungsindustrie immer weiter. Atomwaffen wurden abgerüstet, heimlich aufgerüstet. Gewinner waren nur die Waffenkönige und die Banken.

Die Menschen waren heiß auf die Erleichterungen, die die Technik versprach, und trieben sie voran. Das Telefon mit Kabel und Wählscheibe erleichterte Ende des 19. Jahrhunderts die Kommunikation bahnbrechend. Ein Gesellschaftswandel, den vor allem auch die Großindustrie bewirkte. Viele, wohlbemerkt in den Industrienationen, kamen zu relativem Wohlstand, den sie sich hart hatten erkämpfen müssen. Andere Länder und Menschen hingegen wurden weiter ausgebeutet.

Wirtschafts-, Produktions- und Arbeitsformen befanden sich in stetigem Umbruch.

Durch Elektrizität und den Einsatz fossiler Energien und Massenfertigungen wurde die Mechanisierung intensiviert. Schließlich kam es im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts mit der Computerisierung zur mikroelektronischen Revolution, der digitalen Transformation.“

Über ihr ein Serverraum mit riesigen Computern.

„Diese zählt zur zweitgrößten Veränderung der menschlichen Lebensweise. Mechanische und analoge Technologien kennen wir aus unseren Museen oder Retronachbauten. Digitale Elektronik diente fortan zur Speicherung, Nutzung und Übertragung von Informationen. Prozesse, Produkte und Geschäftsmodelle wurden komplett umgestellt. Im wirtschaftlichen wie auch im privaten Bereich. Mobile Telefone waren nicht mehr wegzudenken und als das erste SmartPhone mit Touch Display 1992 auf den Markt kam, dauerte es nicht lang, bis nahezu jeder damit ausgestattet war, denn seit 1993 gab es das World Wide Web, die Geburtsstunde des Internets. Die Menschen waren fortan mit dem Rest der Welt verbunden, jederzeit, kostengünstig. Eine Sensation, bis dahin undenkbar.

Wissenschaft und Technik wurden nach und nach auch auf lebende Organismen angewandt. Bereits 1953 wurde die Doppelhelix-Struktur der DNS entdeckt, Grundstein für die Entwicklung der modernen Genetik. In den 1970ern kam es zu einer bahn-brechenden Entwicklung: DNS konnte im Reagenzglas verändert werden. Monoklonale Antikörper, wichtige Hilfsmittel in der medizinischen und biologischen Diagnostik, wurden erstmals hergestellt. Herbizide wurden entwickelt, um Nutzpflanzen zu schonen und die Produktivität zu steigern. Biotechnik wurde zunächst zur Herstellung von Medikamenten oder zur Strafverfolgung eingesetzt. Zellen, Organismen oder Biomoleküle wurden erforscht und nutzbar gemacht.

Wohlbemerkt, Biotechnik kannten die Menschen bereits seit 10.000 Jahren als sie Lebensmittel wie Brot, Käse, Wein oder Bier herstellten. Sie wussten nur nicht, dass es sich bei der Nutzung von Hefe um lebendige Mikroorganismen handelte. Sie hatten es einfach entdeckt, meist wohl per Zufall.

Überlegt einmal, welch gravierende Veränderung die Menschheit innerhalb der letzten 300-400 Jahre durchgemacht hat. Jahrhunderte, Jahrtausende gab es ausschließlich harte körperliche Arbeit, Handarbeit und Pflüge unter Einsatz von Zugtieren. Briefe wurden geschrieben und per Boten versendet. Innerhalb einer, menschheitsgeschichtlich gesehen, sehr kurzen Zeitspanne, wurde alles immer wieder umgekrempelt.

Der Mensch musste sich ständig neu erfinden.

Es war zu verstehen, dass nicht alle diesem Tempo folgen konnten. Dass Angst, vor allem Existenzängste oder Misstrauen vor Veränderungen, das Gefühl von Mangel oder übergangen zu werden, die Gedankenfelder massiv beherrschten, bei mehr als acht Milliarden Menschen auf der Erde.

Sie hatten aber keine andere Wahl mehr, es war schon nach 12 Uhr. Es musste weitergehen, denn es waren nur Zwischenschritte, die sie erreicht hatten. Verbrennermotoren, Pestizide und Atomkraftwerke waren kein Ziel, auf dem man sich ausruhen konnte. Nicht nur Artensterben, vergiftete Erde durch extensiven Anbau und Tierzucht, Plastik-Meere und Erderwärmung, sondern auch die zunehmenden Extremwetter-Phänomene weltweit, zwang jeden Einzelnen zu der Erkenntnis, dass ein Weiter so nicht funktionieren würde. Es musste etwas geschehen, damit sie die Zukunft der Menschen auf der Erde nicht in einer düsteren Science-Fiction enden lassen würden, verursacht durch eine Generation von Politikern, die die Prozesse blockierten, die an den Zitzen von Wirtschaftslobbisten saugten und ihr Volk für dumm verkauften oder es subtil gegeneinander aufspielte.

Über einen langen Zeitraum zog sich der Beginn der biotechnologischen Revolution. Biotechnologische Quantensprünge mithilfe von KI veränderten die menschliche Gesellschaft einmal wieder von Grund auf. So konnten wir zu denen werden, die wir heute sind.

Leider nicht ohne schweres Leid in der Zeit des Wandels.

Als künstliche Intelligenz zum Einsatz kam, geschah dies zu jener ungünstigen Zeit von dramatischen Zuständen von Gesellschaften und unserer Erde: wie gravierende Umweltverschmutzungen im großen Stil, zunehmende Extremwetterereignisse, ein Wandel der Erdsysteme durch massive Klima-veränderungen und die daraus resultierenden unfreiwilligen Migrationen. Wie der Verlust der Artenvielfalt, der Zusammenbruch von Ökosystemen, die Knappheit natürlicher Ressourcen durch jahrelanges Machtstreben von Politik und Wirtschaft, das auf Ausbeutung beruhte und zerstörte. Nicht zu vergessen die zahlreichen Kriegsherde.

Die einen waren neugierig und unterstützten die KI-Forschung mit gigantischen Summen. Die anderen sahen Unheil kommen, denn sie trauten dem Menschen an sich nicht, wie man bei der Nutzung von Uran für atomare Massenvernichtungswaffen bitter erfahren hatte. Die mit Angst gefüllten Gedankenfelder wurden immer massiver, spalteten Gesellschaften. Große Tech-Giganten beteuerten einen verantwortungsvollen Umgang mit KI und ließen jedes Produkt vor der Freigabe durch Risikoprüfungen bewerten. Dennoch kam es zu negativen Auswirkungen der KI-Technologien, wie wir es am Beispiel von kriegerischem Drohnen-Einsatz und unzähligen Cyber-Angriffen auf kritische Infrastrukturen aus jener Zeit erfahren konnten. Falschinformationen, die über die Welt verstreut wurden, richteten einen immensen Schaden an. Die meisten Konsumenten des Internets nahmen jedes Wort ungefiltert als wahr, statt es zu hinterfragen, insbesondere die Teens, die rund um die Uhr in sozialen Netzen unterwegs waren und oftmals Fakten und Meinungen nicht unterscheiden konnten. Keinem Video, Bild, Text konnte man mehr Glauben schenken, denn es konnte manipuliert, gefälscht worden sein. Die Algorithmen heizten Meinungen und Stimmungen an und schürten gesellschaftliche Polarisierungen. Auf diese Weise wurde Hass massiv angeheizt, was in jenen Kriegen, Blut und Zerstörung seine grausame Entladung fand.

Eine sehr böse Zeit.

Statt sich um die Umwelt zu kümmern, kam es durch Gier nach mehr Profit für wenige und zum Schein für die Masse als endlos verschlingender Konsument zu tödlichen Machtspielereien einzelner Egomanen. Statt sich um das eigene Volk zu kümmern, projizierten sie den Missstand im eigenen Land auf eine fiktive Bedrohung von außen, geschürt von jenen heillosen Cyberattacken, manipuliert durch Falschinformationen und Propaganda über das Internet, eben durch arglistigen Einsatz von KI. Das passierte, als KI in falsche Hände gelangte.

Wir alle wissen, warum das Tabu als letztes Mittel zum Einsatz kam. Der Mensch musste vor sich selbst geschützt werden. Wir halten uns noch heute daran und wissen, wie wichtig das Tabu für unser aller Leben ist, wenn wir diese schockierenden Bilder aus der Vergangenheit sehen.

Schlimm, dass es auch im 21. Jahrhundert weiter zu brutalen Terrorakten allein des unterschiedlichen Glaubens wegen gekommen war. Gier nach Geld, extremer Glaube, schräge Weltbilder, digitale Manipulationen, Machtallüren. Eine sehr dunkle Zeit.

Andere kämpften verzweifelt für eine Veränderung des Bewusstseins im Umgang mit der Erde, mit ihren endlichen Ressourcen. Alles war verdreckt und zugemüllt, Erde, Wasser und Luft. Wir kennen die Holos aus dieser Zeit.“

Sie deutete über sich zu den Müll-Szenarien.

„Als wäre das nicht genug, gab es ein Bollwerk von Ignoranten, die Angst hatten, dass sie ihr bequemes Umfeld, den Flitzer in der Garage und das Stück Fleisch jeden Tag aufgeben sollten. Wenn sie gewusst hätten, welche genialen Fortbewegungsmittel wir jetzt haben, nämlich galaktische Flitzer, die sicher und ressourcenschonend sind, hätten sie schneller in Veräderungen eingewilligt. Auch in der Politik lähmten Ignoranten aus Trägheit und Eigeninteresse die Entscheidungen, dringende Prozesse umzusetzen, die in vielen Startups bereits in den Startlöchern standen.

Sie hatten zwischen Ende des 20., Anfang des 21. Jahrhunderts sehr viel Zeit verloren. Kostbare Zeit im wahrsten Sinne des Wortes, denn es sollte sie viel kosten, die Erde in einen gesunden Planeten zurückzuverwandeln. Das schafften die Verursachergenerationen nicht. Das durften ihre Kinder und Enkel ausbaden. Wenn wir die Wetterphänomene sehen, denke ich bei jedem Wirbelsturm in unserem Land an jene Vorfahren. Denn Wirbelstürme gibt es erst seit gut hundert Jahren in unserer Region, niemals zuvor, um nur ein Relikt aus dieser Zeit zu nennen. Andernorts herrschen nie dagewesene Dürre, Regen, kältere oder heißere Zonen, viel Schnee oder gar keiner mehr, oder Extremregen. Wetter, die an einem Ort stehen zu bleiben scheinen und anderenorts Stürme ohne Ende. Dazu verschobene Jahreszeiten. Immerhin hat sich das Wetter durch viele nachhaltige Maßnahmen etwas stabilisieren können. Seit sechzig Jahren schmelzen die verbliebenen Gletscher nicht mehr und das verbliebene Eis der Polkappen konnte bis heute gehalten werden. Eisberge scheinen langsam wieder zu wachsen. Die Meeresströme haben sich verändert, mit ihnen ihre Tier- und Pflanzenwelt.

Dann endlich erkannten auch die Machthabenden die negativen Konsequenzen aus ihrem ignoranten Verhalten. Sie haben ihre Lebensweisen anpassen müssen, kamen herunter von ihrem hohen Ross.

Wir leben mit dem veränderten Klima, wir sind damit aufgewachsen und wissen damit umzugehen. Es gibt keine Siedlungen mehr in Überschwemmungsgebieten und direkt an den Küsten der Meere, um nur eine Veränderung zu nennen.

Die Menschheit hat viele Zeiten und Prozesse durchgemacht. Großartige alte Kulturen konnten sich aufgrund von Ego nicht halten, zerstörten sich selbst oder wurden von neuen Mächten unterworfen.

In der Zeit des Wandels hörten sie immer noch nicht auf, andere Kulturen samt Kulturgütern unwiederbringlich zu zerstören. Viele dachten, die Menschen hätten ein Vorrecht, die Erde auszubeuten, aufgrund ihrer alle anderen Spezies überragenden Intelligenz.

Ein Hybris-Fehler, der beinahe zu ihrer eigenen Zerstörung geführt hätte, wie wir heute wissen.

Der intelligenteste Organismus ist die Erde mit ihrer Natur, in der alles aufeinander abgestimmt ist. Die Erde kann auf einen Zeitraum von 3,5 Milliarden Jahre Lebenserfahrung zurückblicken. Wir Menschen haben die große Chance, mit unserem Leben die Schönheit der Erde erfassen, lieben, wertschätzen und durch sie lernen zu dürfen.

 

Sie hatten damals nach all dem Leid durch Kriege, einseitige Wirtschaftspolitik und den nicht mehr zu leugnenden klimatischen Veränderungen weltweit erkannt, dass sie auf dem besten Weg waren, die komplette Menschheit mit diesem Gebaren in den Ruin zu stürzen. Spät erst hatten sie erkannt, dass eine ökologische Transformation keine Bedrohung darstellt.

Mutigen Menschen, Visionären, gelang es mit Hilfe der KI, nachhaltige Gesellschafts- und Wirtschaftsmodelle in die Zukunft gerichtet zu generieren. Viele kluge Ideen kamen zum Einsatz.

Der Mensch glaubte dem Menschen nicht, doch als eine Maschine ihnen vorrechnete und ganz sachlich darlegte, dass, wenn sie so weiterleben würden wie bisher, sie global die nahe Zukunft nur unter großen Entbehrungen und Leid oder sogar gar nicht mehr erleben würden, waren sie geschockt.

KI rechnete ihnen die Zukunftsvision eines jeden Projektes durch.

Jetzt war der Leidensdruck so groß, dass sich nach und nach alle an einen runden Tisch setzten und einen Zukunftsrat gründeten, als beratende Instanz der Vereinten Nationen in Sachen Erde, Ökologie und nachhaltiger zukunftsweisender Projekte inklusive ethischer Fragen und übergeordneter Reglementierungen. Durch den Zukunftsrat bekam die UN einen neuen lebensnotwendigen Schwerpunkt. Schließlich wurde die UN samt Zukunftsrat zum Globalen Rat, dem heute alle 204 Nationen der Erde angehören.“

Sie drehte sich um und applaudierte in Richtung aller Vertreter der Erdnationen. Das Publikum stimmte ein.

„Der biotechnologische Wandel stellte den Menschen wieder vor neue unbekannte Herausforderungen. Durch eine ethische Reflexion gelang es, Werte und Normen unterschiedlicher Traditionen unter einen globalen Hut zu bekommen. Es ging um Fragen des ethischen und nachhaltigen Umgangs mit Technik und Biotechnik, die zahlreiche Aspekte der menschlichen Lebensform und unserer Umwelt betraf. Das Tabu, unser ethisches Regelwerk, das der Zukunftsrat entwickelt hatte, schützt, wie gesagt, uns Menschen vor uns Menschen.

Durch das globale Tabu konnte das Trauma von Angst und Misstrauen abgebaut und Vertrauen langsam wieder aufgebaut werden. Welch eine Erlösung!

Damit war es dem Menschen gelungen, eine zuvor nie dagewesene bahnbrechende gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen, die die Zukunft, in der wir jetzt leben, erst ermöglichen konnte.

Dank unserer begnadeten Wissenschaftler und Techniker, Programmierer, Werkstofftechniker, Bioniker, Chemiker, Physiker, Biotechnologen, Bioingenieure, Mathematiker, Psychologen, Künstler, Designer, Handwerker und vielen mehr, konnten und können wir vieles wieder aufbauen, was damals zerstört worden war.

Wir sind unglaublich dankbar, heute leben zu dürfen, und dass wir durch die Zeitfenster mittels Holos Einblicke zum Lernen nutzen können, damit wir nicht wieder von vorn anfangen müssen. Danke an alle Visionäre.“

Sie hob ihre Arme gen Publikum. Alle lachten. Sie lächelte und blickte in die zweite Reihe. Sie hielt kurz inne und nickte.

„Nachbauten sind keine Originale. Es ist unfassbar, wie viele Kulturgüter durch Kriegstreiben zerstört wurden. Nach einer dramatischen Zeit mit unzähligen unermüdlichen Versuchen, Frieden über die Erde zu bringen, hatten unsere Vorfahren, zu denen wir die Eltern unseres jetzt noch lebenden 122-Jährigen Goldenen Alten zählen dürfen… Maistir Choi…“

Sie winkte dem Goldenen Alten zu und sein Holo schwebte über Gimra. Er hatte sich mit der Unterstützung seiner Nachbarn aufgerichtet. Sein linker Nachbar war Druide Tanobakt, sein langjähriger Schüler, Vater von Gimra und Nane, Opa, von Kyr. Der hatte es wohl selbst momentan mit dem Kreuz und wurde wiederum von dessen Nachbarn gestützt. An seiner rechten Seite stützte ihn Elieanor, Rosurans Nana. Eine lustige Reihe. Maistir Choi lachte herzerfrischend und wäre die Auflösung nicht so gut, würde man denken, er sei ein junger Mann. Seine weißen Haare standen in alle Richtungen, eine Frisur, die so einige Teens oder Twens gern trugen, samt Farbe. Retro. Maistir Choi wedelte seinen Stock galant in der Luft zum Gruße. Er war von langer, schlaksiger Statur, was durch seinen XXL-Pulli noch verstärkt wurde. Seine Ausstrahlung war sehr würdevoll. Ein echter Goldener Alter, ein echter Maistir. Bis zu seinem 100. Geburtstag wären solch öffentlichen Auftritte für ihn noch undenkbar gewesen und wenn, dann mit irgendeiner Katastrophe verbunden. Seitdem war seine Schüchternheit nahezu verflogen. Eigenartigerweise war diese Eigenart für eine Zeit auf Tanobakt, seinen Schüler, übergesprungen und von dem Druiden nun seit sechs Jahren auf Kyr, dem das mehr als lästig war. Er wollte nicht erst 100 Jahre alt werden, um seine Schüchternheit loszuwerden.

„Maistir Chois Eltern waren gemeinsam mit Maistir Salanas Eltern maßgeblich an der Gründung des Globalen Rates beteiligt gewesen. Wie die meisten wissen, hatte Maistir Salana vor drei Jahren das Samsara-Lebensfest gefeiert und unterstützt seither einige von uns als geistige Beraterin. Beide, Maistir Salana und Maistir Choi, traten in die Fußstapfen ihrer Eltern und waren lange als Ratsmitglieder für den Globalen Rat tätig gewesen; Maistir Choi ganze erfolgreiche 65 Jahre bis zu seinem 100. Geburtstag. Seitdem ist er bis zum heutigen Tag Ehrenrat. Wir alle zehren heute von seinem entschlossenen Einsatz für den Weltfrieden. Die Saat des Friedens wurde damals gesät. Ihr habt die zarten Pflänzchen gehütet und gepflegt. Jahr für Jahr dürfen wir nun die Früchte ernten, die Früchte des Baumes der Erkenntnis, allein durch euer starkes und unermüdliches Vertrauen, dass dieses Projekt von Generation zu Generation weiter in die Zukunft getragen wird. Ihr beide habt eure Vision, dass unser Leben nachhaltig frei von Krieg und Zerstörung sein würde, bis heute in die Realität übertragen können. Durch die Kraft eurer Liebe für unseren wunderschönen Planeten. Wir sind auf ewig dankbar.“

Tosender stehender Beifall.

Das Publikum setzte sich wieder.

Gimra fuhr fort, an Maistir Choi gewandt:

„Im Jahre 2062 hatten endlich, nach einer Zeit zäher Verhandlungen, alle 204 Länder unserer geliebten Erde den globalen Friedensvertrag unterschrieben. Dieser historische Tag für alle Bewohnerinnen und Bewohner unserer Erde wurde seitdem mit dem Tag des Friedens gefeiert. Gemeinsam feiern wir heute 100 Jahre friedliche Nachbarschaft zwischen allen Staaten!“

Tosender Beifall.

„Maistir Choi. Seit 2075 gehörtest du als Abgesandter unseres Landes zu den Ratsmitgliedern des Globalen Rates. Frieden ist nicht selbstverständlich. Frieden ist Arbeit. Frieden muss bei Bedarf immer wieder neu gesät werden. Frieden ist oft eine sensible Pflanze, selbst wenn es sich zwischen manchen Staaten um einen starken Baum handelt. Dank deines herausragenden diplomatischen Geschicks konnten viele Auseinandersetzungen geschlichtet und Gerechtigkeit gelebt werden. Viele nachhaltige Ideen konnten weltweit umgesetzt werden. Nur weil du, hochgeschätzter Maistir Choi, alle immer wieder unbeirrt mit starken Worten beschworen hast, so, wie wir es jeden Tag von Neuem kundtun: Gebt Frieden eine Chance…“

Als wäre es ein Stichwort, dem wohl auch so war, verschwand in diesem Moment Maistir Chois Holo über Gimra. Stattdessen schwebte an dessen Stelle ein Holo mit einem privaten Konzertmitschnitt aus dem Jahr 1969 von der Plastic Ono Band mit John Lennon und Yoko Ono. Die Aufnahme war aus einem völlig überfüllten Hotelzimmer in Montreal. Die beiden saßen auf dem Bett, John mit Gitarre, andere saßen und standen drumherum und sangen: „Give peace a chance“. Das Lied schallte laut und schräg durch die Agora.

Gimra schaute verdutzt in die zweite Reihe zu Maistir Choi. Schon sah man sein Holo neben dem Hotelzimmerkonzert. Er sah aus, als wäre er einer der Fans um die beiden herum. Als wäre er ein Twen und keine 122 Jahre, wippte er im Takt der Musik, schwenkte dabei seinen Stock hin und her und sang aus Leibeskräften mit. Außer Tanobakt und Elieanor war das Lied noch unter einer eingeschworenen Retro-Musik aus den 60er und 70er-Gemeinde bekannt, die alle enthusiastisch mitsangen. Schon reagierte die Deko. Ein riesiges, in Regenbogenfarben leuchtendes Peace-Zeichen erstrahlte unter der Kuppel. Hunderte von Feuerzeugen wurden entzündet und schwebten über dem Publikum, den Abgesandten aller Länder und über Gimra und Jaskula. Ein Textband lief um die Halle zum Mitsingen nach Karaoke-Art. Jaskula stand nun neben Gimra und wusste nicht so recht, was sie tun sollte. Maistir Choi lachte ihnen glückselig zu. Die Stimmung war bombastisch. Alle standen, sangen und schwenkten nun Holo-Feuerzeugflammen in bunten Farben aus ihren Memos. Ein Lichtermeer der Freude für den Frieden und für Maistir Choi.

Trotzdem gab es einen kurzen strengen Blick Richtung Rosuran und Kyr. In dem Moment klatschte Maistir Choi mit den beiden ab. Die steckten doch alle unter einer Schalk-Decke. Abklatschen war wieder solch eine Retro-Nummer. Manche Moden hielten sich wohl hartnäckig. Na gut, Jaskula und Gimra sangen mit, denn alle sahen sie mit glücklichen Gesichtern an, als wären sie die Planerinnen dieser gelungenen Herzensüberraschung. Nein, waren sie nicht. Herz ja, Überraschung nein. Aber na gut. Unfassbar, diese Jugend. Auch das änderte sich wohl nie.

Die Aufnahme kam zum Ende, sämtliche Feuerzeugflammen erloschen und Maistir Choi nahm wieder den Mittelplatz im Holo über der Redner-Insel ein.

Nachdem alle sich beruhigt hatten, fuhr Gimra fort:

„Maistir Choi. Seit 122 Jahren…“

Sie wurde durch einen Stockschwenker von Maistir Choi unterbrochen. Sie blickte ihn an, nickte ihm lächelnd zu, atmete tief ein und aus und sagte sichtlich bewegt:

„Ich übergebe nun feierlich das Wort an unseren weisen Goldenen Alten Maistir Choi. Es ist mir und uns allen eine große Ehre, dass du heute mitten unter uns…“

Alle applaudierten euphorisch im Takt. Alle wussten, was bald kommen würde. Hanaskea, Kyr, Rosuran, Aleyna, Burgon und Ushlaran drehten sich zu ihm um. Maistir Choi lachte in seiner unverwechselbaren bescheidenen Art und gab ein Zeichen zur Ruhe:

 

„Danke dir, liebe Gimra, für diese gelungene Überleitung. Welch grandiose Überraschung mit diesem besonderen Lied für Frieden ist euch da gelungen. Dieses Lied ist nun schon nahezu 200 Jahre alt. Damals wurde es aus tiefer Sehnsucht nach Frieden gesungen und heute aus tiefer Dankbarkeit für den Frieden, den wir genießen dürfen.

Ja, es ist mir eine große Ehre mitten unter euch, geliebtes Volk von Cambolia und umrahmt von meinen engen Freunden, das Fest der Feste an diesem besonderen Festtag feiern zu dürfen. Vor 122 Jahren hätte ich niemals für möglich gehalten, dass ich mein körperliches Ende selbst und in Freude und Dankbarkeit entscheiden dürfte.

Meine Eltern waren die ersten der Generation Alpha, die nach der Generation Z folgte.

Z wurden die damals um die Jahrtausendwende Geborenen bezeichnet, die mit einem Smartphone im Jugendalter aufgewachsen waren. Z als letzter Buchstabe im Alphabet, implizierte, dass es sich um die letzte Generation auf der Erde handeln würde. Die Endzeitszenarien waren aus Science-Fiction-Filmen bekannt und kamen langsam, dank der Geringschätzung von Natur und Umwelt, in ihrer Realität an. Dieses Bewusstsein, mit allen Schieflagen auf der Erde, veranlasste eine Letzte Generation zu verzweifelten Aktionen, um die Menschheit aufzurütteln.

Dann kam Generation Alpha ins Spiel, die Hoffnung auf einen Neuanfang. Das haben meine Eltern mit in die Wiege gelegt bekommen. Nachhaltigkeit war selbstverständlich, denn sie wuchsen bereits mit der zunehmenden Bedrohung durch Klimakrisen auf.

Gamification wurde ein wesentlicher Bestandteil ihres Lebens, Punktesystem, Statuserwerb, Teambuilding, Ranglisten, Wettbewerb, Herausforderung, Missionen und noch weitere Motivationen spornten an, um schwierige, unangenehme oder langweilige Aufgaben zu lösen, von der Ausbildung, im Beruf bis hin zu Hobbys. Sie liebten es, egal wo, und verbrachten zudem viel Zeit in der Gaming Szene. Eine witzige Anekdote war, dass es ihnen in der virtuellen Welt sehr wichtig war, sich besonders einzukleiden, nicht in der reellen. Auch eine Form von Nachhaltigkeit, denn in der reellen Welt waren sie unbeeindruckt von Modetrends. Bequem war in. Sie fanden allerdings heraus, dass Modefirmen viel Geld für die Werbung ihrer Kollektionen zahlten, die sie in der virtuellen Welt probehalber einsetzten. Das war bestens investiertes Geld, denn wer die Level nicht immer erspielen wollte, um sich mit Status aufzumotzen, zahlte für die virtuellen Klamotten und Extras. Das einzig Gute an dieser subtilen Testreihe war, dass nur die Modelinien produziert wurden, die auch in der virtuellen Welt erfolgreich auf dem Markt waren. Also wurde weniger vernichtet, was sich nicht reell verkaufen ließ. Meine Eltern stiegen aus diesem Marketingtrick aus und kümmerten sich fortan um den Fortbestand der reellen Welt. Mithilfe von KI.

Die virtuellen Märkte waren nicht ohne. Es war erschreckend, was sich parallel zur reellen Welt abspielte. Welch Abhängigkeiten und Machtverschiebungen da entstanden waren. Auch hier herrschten Geld und Zugänge. Cyber-Spionage konnte hinter jedem Mausklick stecken. Hacker wurden zu Soldaten, die den Gegner unterwandern sollten. Gleichzeitig wurden die Schutzmechanismen auch immer erfolgreicher, dank KI. Im letzten Moment gestanden sich Industrienationen und Autokratien ein, dass ein Krieg, KI gegen KI, von keinem der Parteien zu gewinnen war und unterzeichneten einen Vertrag, der die militärische Nutzung von KI weltweit verbot. Ein erster Schritt war getan Richtung globalem Frieden.

Das war 2040. Ich wurde in genau diese Welt geboren und von meinen Eltern von 0 an zu gewaltfreier Kommunikation und zur Nachhaltigkeit auf allen Ebenen erzogen. Ich hatte mit vier Jahren meinen ersten Avatar.

Die technisch komplexeren Entwicklungen wuchsen exponentiell. Digitalisierung hatte jeden Lebensbereich erfasst. Ab Generation Beta waren die permanenten Weiterentwicklungen normal. Die reelle Welt wurde immer unreeller, da der Lebensmittelpunkt in der digitalen Welt mit KI stattfand. Vierzig Jahre früher hätte es die Kiddies noch zu sehr verwirrt, doch von jetzt an war es normal. Parallele Welten waren Teil unseres Lebens.

Um die Zeit des biotechnologischen Wandels etablierte sich sicheres autonomes Fahren, definitiv sicherer für alle Beteiligten. Meine Eltern bemühten sich, uns Kindern ein gutes und respektvolles Bewusstsein zur Natur und die Liebe zur Schönheit unserer Erde zu vermitteln. Mit jeder digitalen Neuerung und auch Forschungsdurchbrüchen in der Biotechnologie kämpften sie um zeitnahe Aktualisierungen des ethischen Regelwerks.

Auf welche Personen habe ich wohl als Baby als erstes meine Blicke scharf stellen können?“

Alle grinsten, doch niemand wusste eine Antwort. Enorm, wie er dastand und seine Rede hielt mit seinen 122 Jahren. Druide Tanobakt hielt Maistir Chois Stock, damit dieser seine Hände frei hatte, um seine Worte mit Gesten zu unterstreichen.

„Nun, es waren die Ratsmitglieder des Zukunftsrates. Als ich geboren wurde, gehörten meine Eltern zu den Gründern des Zukunftsrates. Ich glaube, ich bin dort auch zur Welt gekommen.“

Alle lachten. Das erklärte doch so einiges in seinem Werdegang.

„Ja, genau, ihr denkt richtig. Mein Weg war vorgezeichnet. Der Zukunftsrat beriet anfangs die Vereinten Nationen. Als ich 10 wurde, wurde aus den Vereinten Nationen der Globale Rat und der Zukunftsrat wurde integriert.

Niemals werde ich vergessen, wie damals vor 100 Jahren im Jahr 2062 gefeiert wurde. Die komplette Welt feierte eine ganze Woche lang den Weltfrieden. Wie aus dem Häuschen. 2062 hatten endlich die letzten beiden Staaten den globalen Friedensvertrag unter Aufsicht des Globalen Rates unterzeichnet. Umweltkatastrophen und das sich verändernde Wetter waren zunächst ungewollte Kriegstreiber, dann kehrte sich das Blatt und das Wetter wurde zum Friedenstreiber. Der Leidensdruck war im letzten Winkel der Erde angekommen, denn die Menschen brauchten all ihre Ressourcen und Gelder, um ihr Leben auf ein anderes Klima umzustellen. Weltweit. Schlau waren die, die schon gut dreißig Jahre früher angefangen hatten, auf Wetterveränderungen zu reagieren.

Hätte die Menschheit schon viel früher reagiert, ich denke da an die 1970er, und es erst gar nicht so weit kommen lassen, hätten die Menschen viel mehr Zeit gehabt, sich auf die natürlichen Klimaveränderungen einzustellen… Hätte, hätte, Fahrradkette…“

Zustimmendes Murmeln.

„Es ist paradox, aber durch Digitalisierung und Gamification brauchten viele gar nicht mehr hinaus in Sturm oder Hitze. Also brauchten sie kein zwingend gut kalkulierbares Wetter wie früher.“

Bedauerndes Lachen.

„Jetzt, meine lieben Freunde, möchte ich diese traurige Zeit nicht weiter vertiefen. Ich wollte sie nur einmal in Erinnerung rufen, so, wie du, liebe Rätin Gimra. Das Schlimmste daran ist, so sehe ich es im Nachhinein, dass die Verursacher der düsteren Zustände weltweit weniger die Leidtragenden waren als die Milliarden Nicht-Verursacher und die folgenden Generationen. Immerhin war es ihnen gerade noch gelungen, die Wege in eine Welt mit gesunden Einstellungen zu allem Leben auf der Erde zu leiten. Ansonsten säßen wir jetzt nicht alle hier zusammen. Und uns geht es jetzt gut. Sehr gut.

Zögert nicht, euch immer mal wieder einen Holo aus dieser Zeit zu Gemüte zu führen. Wir können uns heute diese Zeitfester gemütlich aus unseren wohlklimatisieren Häusern ansehen, dabei Popcorn naschen und Nachos dippen, und uns immer wieder sagen: Uns geht es jetzt gut. Sehr gut.

Dies zu erhalten, ist die Aufgabe der jetzigen Generationen Pi. Es gibt doch nichts Schöneres als diese irrationale Zahl. Ich liebe sie. Wie gut, dass sie meinen ganz persönlichen Antrag angenommen hatten, als es um die Nachfolge von Generation Iota ging. Nichts gegen Kappa, aber Pi…“

Alle lachten. Was dieser alte Weise schon alles bewirkt hatte.

„Alter schützt vor Torheit nicht. Das gilt immer. Jetzt wechsele ich das Thema zu meiner großen Liebe Salana.

 

Maistir Salana hatte ich während der Studienzeiten in der Mensa kennengelernt. Sie hatte damals schon diese liebevolle, aber direkte motivierende Art. Sie überzeugte die Leiterin der Mensaküche, auch Bio- und regionale Kost anzubieten. Sie sammelte Kontaktdaten von entsprechenden Betrieben und bereits ein Semester später kam es zu einer Umstellung des Essensplans. Klar, dass Studenten das gern annahmen. Salana sorgte sogar an unserer Uni für einen Küchen-Sponsor, denn die meisten Studis begrüßten die Um-stellung sofort, konnten es sich aber nicht leisten. Nachdem endlich auch die Politik reagiert hatte und Subventionen von Massenbetrieben auf Öko-Betriebe umstellten, gelang es endlich, dass sich die Studenten gutes Essen auch ohne die Mensa-Unterstützung leisten konnten und mit ihnen alle Bürgerinnen und Bürger unseres Landes. Fünfzig Jahre zuvor war es normal, gesundes Essen auf dem Tisch zu haben. Nur ein bis zwei Mal in der Woche gab es Fleisch. Öko war keine Besonderheit, sondern völlig normal. Dann kamen die Spritzereien in Mode, um den Ertrag zu steigern, dazu die industrielle Landwirtschaft, angeblich, um den Hunger der Welt zu beenden. Welch eine Augenwischerei! Der Hunger im Rest der Welt außerhalb der Industrienationen wurde durch eine Politik der Abhängigkeiten mehr statt weniger. Und die Leute wurden kränker von all der Chemie in Fleisch, Gemüse, Obst, im ganzen Essen. Vom Turbo-Essen, welches sie in Turbo-Geschwindigkeit gleichgültig in sich reinstopften.

Eigentümlicherweise empfanden viele Öko-Essen als abgehoben und unsinnig. Als Öko-Diktatur wurde das Bemühen um ein gesundes Essen beschimpft. Wie gesagt, es ging um genau das Essen aus dem Garten, vom Acker und von der Weide, das ihre Großeltern als ganz selbstverständlich und dankbar verzehrten und mit ihnen alle Menschen Tausende von Jahren zuvor. Unfassbar.“

Viele schüttelten ihre Köpfe.

„Ganz einfach. Ein weiter so, wäre unverantwortlich gewesen. Sie nahmen die Beschimpfungen hin und kämpften weiter für gesundes Essen für alle. Ein entscheidender Knackpunkt war schließlich die Kommunikation. Allgemein verständlichere Informationen, die die Menschen mit ins Boot nahmen. Die meisten Menschen verloren die Angst, man würde ihnen das Essen vom Teller klauen. Auch die Zweifler lernten es zu schätzen, denn sie konnten ja nach wie vor ihren Burger essen, ihr kennt das Retro-Essen, nur eben nicht mehr jeden Tag für lau auf die Kralle…“

Er kicherte über sich selbst. Alle kicherten mit, allerdings wussten nur die Wenigsten, was es bedeutete.

„Für die, die damals noch nicht gelebt hatten…“

Er kicherte wieder. Das steckte an.

„Das bedeutete in etwa, für wenig Geld direkt auf die Hand. Die Krankenkassen begrüßten die nachhaltigen guten Änderungen der Ernährung in Kombination mit Bewegungsprogrammen, denn auch Übergewicht war bei der Hälfte der Bevölkerung ein Problem und bei 20 Prozent sogar krankhaft. Durch die Einsparungen dank weniger Folgeerkrankungen durch ungesundes Essen und Dauer-Internet konnten sie medizinische Unterstützungen wieder deutlich erweitern und erhöhen, die Beiträge gesenkt werden. Alles hängt zusammen, wir wissen es.

Wie kam ich nur zum Thema Essen? Ach ja. Über Salana natürlich. Wir waren in all unseren Leben immer irgendwie verbandelt gewesen und ich hatte sie immer irgendwie geliebt, seit wir uns im ersten Leben auf der Erde begegnet waren. Ich erinnere mich, als ich ihr das erste Mal begegnete, ihr die Hand reichen wollte und glatt über irgendwas gestolpert bin. Da lag ich nun, direkt vor ihr auf der Nase, die ich mir auch noch aufgeschlagen hatte. Sie hatte mir hochgeholfen, sich einen Ärmel abgerissen, und ihn vor meine blutige Nase gehalten. Dabei hatte sie mich angelächelt und ihren Kopf hin und hergewiegt. Allein daran hatte ich sie in jedem Leben wiedererkannt, ohne dass ich es wusste. Und an ihrer unglaublich angenehmen Stimme. Ihr kennt sie alle. Maistir Salana, wie gern habe ich dieser weisen Frau zugehört. Sie weiß schon, dass ich bald komme.“

Er lächelte verliebt und glückselig.

„So, wie ich ihr in all meinen Leben auf der Erde begegnet bin, bin ich einigen von euch begegnet. Aleyna und Burgon, Hanaskea und Kyr, Rosuran und Jaskula, Tanobakt und Elieanor, Ushlaran und auch dir, liebe Rätin Gimra.

Ich danke euch, für die Konstante in meinem Leben. Wir haben auf magische Weise voneinander lernen können. Nicht immer waren die Erfahrungen schön, aber im Nachhinein aus den Augen eines weisen Mannes…“

Er kicherte wieder und blickte in die Runde. Wie ein kleiner, spitzbübischer Junge. Alle waren verzückt.

„… gehörten sie zu all den Erfahrungen, die mich zu dem gemacht haben, der ich in diesem Leben sein durfte. Dank Maistir Salana habe ich meine Studienschwerpunkte geändert und konnte mich in meinem Leben in die Astronomie und das Heilwesen vertiefen. Ich studierte jede Pflanze, die bei uns wuchs, bis in die kleinsten Universen ihrer wunderschönen Zellen. Es ist unglaublich, dass sie es geschafft haben, dank der Protein-Designer, unsere Häuser zum Wachsen zu bringen. Undenkbar damals. Jetzt regelt das Tabu jegliche Bedenken. Das Tabu, das uns jedmögliche Entwicklungs-Szenarien aufzeigen kann, je nachdem, was erfunden wird. Es schützt das Leben vor Missbrauch. Schade, hätten sie es nur früher erfunden, so viel Leid wäre ihnen und uns erspart geblieben.

Hätte, hätte, Fahrradkette…“

Alle lachten. Eine heitere und ausgelassene Stimmung breitete sich aus.

„Und hätte, hätte, Fahrradkette, ich noch ein Leben auf der Erde, dann würde ich ein Comedian werden. Zu dumm, da musste ich erst 100 Jahre alt werden, um meine Schüchternheit zu verlieren und vor Leuten reden zu können. Man lernt nie aus, das ist das Wunderbare am Leben und am Alter.

Wo war ich eben. Ja. Das Tabu. Nun, ich weiß, es fehlte an frei verfügbarer Energie für Datenmengen, Rechenleistung und Speicher. Aber auch dieses Problem wurde mit der Zeit gelöst.

Wie du beschrieben hast, liebe Rätin Gimra, das Tabu ist unser sicherster Schutz vor uns selbst.

Aggressionen werden von Generation zu Generation abgebaut, auf ganz natürliche Art und Weise, ohne Eingriff seitens KI-gesteuerter Medizin. Natürliche Evolution durch Frieden und Wohlstand über mehrere Generationen. Aggression ist heute zum Leben und Überleben nicht mehr notwendig.

Wasser, Energie, Essen und Bildung ist für alle da. Kämpfe werden nur noch auf dem Sportplatz, reell oder virtuell ausgetragen.

Wir leben auf dem Paradies Erde und leben die Schönheit der Natur, wie sie es in ihren Zellen dank ihrer Jahrmillionen Erfahrungen jeden Tag gespeichert hat.

Die Spezies Mensch ist ein Teil der Wunder, die die Natur hervorgebracht hat. Die Natur ist unser Vorbild. Ihre Schönheit hat eine Funktion. Von ihr lernen wir, denn sie war schon lange vor uns und wird auch lange nach uns sein. Unermüdlich versuchen wir ihre Funktionen und Kreisläufe nachzubauen. An unseren wachsenden organischen Häusern sehen wir, wie gut es funktionieren kann. Ein altes organisches Haus zerfällt einfach durch Wasser- und Nährstoffentzug. Der verantwortliche Umgang mit programmierten Zellen ist im Tabu geregelt.

Wir leben die Schönheit und die Verantwortung für sie und für uns. Für die folgenden Generationen. Das ist wahrhaftiges Glück.“

Maistir Choi machte eine kurze Pause. Er öffnete seine Arme zu einer segnenden Haltung:

„Uns geht es gut. Sehr gut.

Es ist der schönste Zeitpunkt, zu gehen.

Frei von Sorgen.

Voller Freude für alle Nachkommen.

Ich danke euch allen für dieses große Geschenk.

Jetzt bleibt mir nur zu sagen:

Habt ein gutes Leben, liebe Freunde, und auf bald.

Danke lieber wunderschöner Planet und auf bald.

Ich begebe mich auf meine Reise.

Ich gehe überglücklich und in Frieden.

Ich liebe euch.

Lebt glücklich und in Frieden.“

 

Die Agora war still.

Er setzte sich ganz langsam. Dabei nickte er Kyr zu, der sich intuitiv zu ihm rüber beugte. Choi legte seine Hand auf Kyrs Schulter. Er lächelte zu Tanobakt, der nickte, lächelte zu Elieanor, die nickte, lächelte in die Gesichter seiner Freunde aus der ersten Reihe, Ushlaran, Burgon, Aleyna, Hanaskea und Rosuran. Lächelte hinauf zu Jaskula und Gimra. Dann blickte er wieder zu Kyr, lächelte und schloss seine Augen mit dem letzten Atemzug.

Einen Moment später wurde die Hand ganz leicht.

Maistir Chois Reise hatte begonnen. In diesem Moment nach 122 Jahren.

Tanobakt nahm Maistir Chois Hand von Kyrs Schulter und legte sie auf die andere auf seinen Schoß. Würdevoll saß er dort. Er lächelte immer noch.

Die Deko verschwand.

Die Agora war still.

Mit einem Mal lösten sich weiße Vögel aus seinem Körper, viele lichtweiße Vögel. Sie flogen hoch und höher zur geöffneten Kuppel der Agora. Ein Vogel war dabei, der war größer und heller als alle anderen. Er folg inmitten der anderen noch eine große Runde über alle Köpfe und in Spiralen immer höher und schließlich hinaus in den Himmel, wo sich der große weißleuchtende Vogel auflöste und mit ihm alle anderen.

Er war gegangen.

Auf seine Reise in die geistige Welt.

Hin zu seinen neuen Aufgaben.

Worte wurden nicht mehr gesprochen.

Hinter ihm waren jeweils vier Plätze nicht besetzt gewesen, durchgängig bis nach hinten zum Haupttor. Ein Mechanismus klappte leise die Sitze hoch, lenkte sie zu beiden Seiten und gab den Weg frei. Das große, hohe Tor hinter den großen Säulen öffnete sich. Alle standen auf und wendeten sich zum Mittelgang.

Maistir Chois Sitz entkoppelte sich, drehte sich und schwebte langsam Richtung Tor.

Sanftes Trommeln erklang und begleitete sie.

Elieanor und Tanobakt flankierten ihn. Dann folgten Rosuran, Hanaskea und Kyr, der die Hand des Maistirs immer noch auf seiner Schulter fühlte, Aleyna und Burgon. Gimra und Jaskula waren jetzt bei ihnen und folgten mit Ushlaran. Danach die Gesandten, die ihre blauen Tücher festlich umgehängt hatten, und alle anderen, wie es kam. In einer langen Prozession zogen sie aus der Versammlungshalle über den großen Agora-Vorplatz zur Westallee. Die Westallee mit den siebenhundert Jahre alten Sommerlinden endete nach dreihundert Metern beim Haus der Ahnen mit der Feuerhalle.

Mehr und mehr Menschen säumten Maistir Chois letzten Weg, wollten ihn noch einmal sehen, ihm nahe sein.

Maistir Choi schwebte langsam in die Feuerhalle. Alle verweilten respektvoll draußen und ließen dem engeren Kreis den Raum, ihren Freund, Druiden, Lehrmeister und Maistir die letzten Meter zu begleiten und zu verabschieden. Schließlich fuhr der Sitz mit dem Maistir geruhsam direkt bis in die Feuerkammer hinein.

Die anderen traten einen Schritt zurück.

Die Feuerkammer schloss ihre dunkelbraunen Glastüren.

Ein letztes Mal sahen sie ihn dort glücklich sitzend, den Kopf etwas nach vorn gebeugt.

Eine Glocke zählte zwölf Schläge.

Eine helle Lichtsäule kam von oben und umschloss ihn.

Die Glocke zählte wieder auf zwölf.

Die Lichtsäule wurde schwächer und verschwand.

Die Glocke zählte wieder zwölf Schläge.

Die Tür der Feuerkammer öffnete sich.

Elieanor trug vor sich in ihren Händen ein azurblaues Tuch aus Samt und stellte sich vor die Tür. Ein Krakenarm reichte zum Boden unter der Feuersäule, an dessen Stelle Maistir Choi verbrannt worden war. Der Arm griff einen kleinen glitzernden Diamanten und legte ihn sanft auf das azurfarbene Tuch.

Elieanor trug den Diamanten bedächtig zur Halle der Ahnen, gefolgt von den anderen. Es war eine riesengroße Halle mit vielen Säulen in unterschiedlichen Größen. Mit vielen Nischen, Fächern, Schubladen und Kästchen, viele Regale in unterschiedlichen Größen, viele in Wabenformen, oder Zellstrukturen. Eine Stelle in einer Zelle war frei und hellblau erleuchtet, während die anderen gedimmt waren. In einen bunten Blumenkreis legte Elieanor den Diamanten mit Maistiers DNS aus seinem letzten Leben auf der Erde. All seine Erinnerungen, sein Werdegang, sein Leben waren darin für die Nachwelt auf der Erde gespeichert.

In einem Halbkreis standen sie um seinen funkelnden Diamanten und dachten an ihn in tiefem Respekt, großer Wertschätzung und Liebe. Goldenen Alte wurden jene Maistir genannt, die die Große Wandlung vollzogen, hinaus aus dem Kreislauf der Wiedergeburten auf der Erde, mit all den verschiedenen leidvollen Lehrstücken, die es immer wieder von Neuem zu bewältigen gab.

Tanobakt hatte als Maistir den höchsten geistigen Stand des menschlichen Daseins erreicht, Weisheit. Er war nun ganz in die geistige Welt zurückgereist, mit ihren vielfältigen Aufgaben und Möglichkeiten, die dort auf ihn warteten und auf die er sich schon seit einiger Zeit vorbereitet hatte. In der geistigen Welt zählte er nach einer kurzen Eingewöhnungszeit zu den Evoluten. Ein Evolut stellte den durch die Evolution weiterentwickelten Geist des Menschen dar. Ein durch Liebe, Frieden, Harmonie und Freude beseelter weiser Geist.

Inmitten der besinnlichen Minuten kicherte Kyr plötzlich:

„Haha, er ist lustig. Jaskula, er sagt gerade, er hätte noch zu tun und könnte noch nicht einschätzen, ob er es zu unserem Treffen schafft, aber der Ort wäre perfekt für deinen Garten. Es soll ein Park-Garten sein mit einer Bank vor einem Apfelbaum. Wir könnten die Besichtigung gern schon gleich auf unserem Heimweg einbauen, es wäre nur ein kleiner Schlenker. Im Anschluss an die Begutachtung könnten wir auch schon mit unserer ersten Rückreise beginnen.“

Alle starrten ihn ungläubig an.

„Was? So schnell nach seinem Lebensfest nimmt er Kontakt auf? Er ist doch noch gar nicht richtig im ersten Zwischenraum der geistigen Welt angekommen und erst recht nicht im Feld der geistigen Berater. Wie macht er das nur?“, fragte sich Jaskula.

„Ich weiß, was er noch zu tun hat“, bemerkte Druide Tanobakt. „Er will zunächst trainieren, wie er an zwei bis drei Stellen gleichzeitig beraten kann. Zum einen möchte er als geistiger Berater für den Globalen Rat zur Verfügung stehen, parallel aber auch für uns hier in Cambolia. Nur mit der Zeit würde er sich anfangs vertun, meinte er. Das hätte ihm Maistir Salana berichtet. Auf der raum- und zeitlosen Ebene vergeht keine Zeit, wie wir sie kennen. Für ihn würde gefühlsmäßig nur eine Minute vergehen, doch die Zeit auf der Erde wäre dann schon deutlich weiter. Ich denke, er wird sich schnell einpendeln, so einfühlsam, wie er ist. Ich vermisse ihn jetzt schon und freue mich umso mehr, wenn er…“

„Nein, bevor er dem Globalen Rat zur Verfügung stehen wird, wird er erst einmal den Kontakt zu anderen Galaxien unserer Milchstraße aufbauen. Dazu wird er den Zwischenraum Moto aufsuchen“, wand Elieanor mit großen Augen ein.

„Stimmt, davon hatte er erzählt. Die Kontaktstelle Moto vermittelt beim Projekt Schüleraustausch mit anderen Planeten der Milchstraße. Das ist die zentrale Anlaufstelle bei Fragen um interstellare Reisen. Er hatte hier schon daran gearbeitet, einen ersten Schüleraustausch in die Wege zu leiten. Also muss er für drei parallele Projekte trainieren“, stimmte Jaskula zu, die tatsächlich schon mit Maistir Choi daran gearbeitet hatte und seine Kontaktstelle auf der Erde werden würde.

„Wie festlich es hier aussieht“, meinte Hanaskea und sah sich um. Rosuran flüsterte:

„Ich hätte nicht wenig Lust, mir das eine oder andere Leben einmal anzuschauen. Die Kristalle liegen hier so verführerisch.“

„Rosuran, was höre ich da? Du weißt, dass das eine gravierende Verletzung des Tabus wäre. Die Halle der Ahnen ist ein heiliges Archiv. Außerdem sind alle Kristalle auf bestimmte Bezugspersonen kodiert, sicher nicht auf einen sensationslustigen Teenie“, hakte Jaskula gleich ein. Eben stand sie noch auf der anderen Seite. Das war typisch.

„Das war nur so dahergeredet. Würde ich nie machen“, beteuerte Rosuran. Ertappt.

„Das will ich wohl hoffen. Und das mit dem programmierten Lied, das auf die Titelnennung regierte und selbstständig startete, war sehr frech…“

Kyr unterbrach Jaskula:

„Entschuldigung, Jaskula, aber er drängelt mich zu sagen, dass das die beste Lebensfeier war, die er je miterlebt hat. Allein die gelungene Einspielung von „Give peace a chance“ sei sensationell und galaktisch gewesen. Rosuran und ich sollten dafür eine besondere Auszeichnung erhalten. Das meint er höchstpersönlich, hm, ätherhaft, geistig, galaktisch, ihr wisst, was ich meine.“

„Galaktisch, besondere Auszeichnung, tss. Sag Maistir Choi, egal, wo er sich jetzt befindet, dass das keine Art war. Ihr hättet mich mindestens in Kenntnis setzen müssen“, meinte Jaskula leicht empört.

„Und natürlich auch mich. Steht man da und hält eine wichtige Rede und plötzlich startet ein Lied. Zugegeben, als ich Maistir Chois Gesicht gesehen hatte, war ich so gerührt, dass ich jeglichen Groll sofort wieder vergaß. Er war unglaublich glücklich und stolz. Es war perfekt. Aber ja, das nächste Mal eine kurze Info. Das ist der Punkt“, meinte Gimra mit einem Zwinkern zu ihrem Sohn. Sie konnte ihren Stolz nicht verhehlen. Ihr Mann ging ihrem Blick rasch aus dem Weg und meinte nur kurz zu Kyr und Rosuran, während er ihnen auf die Schultern klopfte:

„Also Jungs, für die Zukunft wisst ihr Bescheid.“

 

 

 

„Okay, das meint Maistir Choi auch, für die Zukunft. Wir wussten auch nicht, ob es überhaupt funktionieren würde. So gab es keine Erwartung, nur eine freudige Überraschung. Maistir Choi meint, dann müsstest du auch Druide Tanobakt rügen, denn er hat uns bezüglich der Programmierung beraten.“

Jaskula griff sich an den Kopf und drehte sich zu Druide Tanobakt um. Der grinste in seinen grauweißen ziegenartigen Bart:

„Tss, jetzt hat er mich auch noch verpetzt, der Goldene Alte. Naja, die dürfen das.“ Und verschwand mit einem Flupp.

„Das war klar. Er muss rasch einen seiner Parallelkörper hier eingewechselt haben. Bei der Verbrennung war noch der echte Tanobakt anwesend. Wäre eine Frechheit, wenn er sich beim großen Lebensfest seines lebenslangen Lehrmeisters durch einen seiner sechs Parallelkörper hätte vertreten lassen. Ihr seid allesamt unmöglich.“

Aleyna wechselte charmant das Thema:

„Wo wir gerade von Überraschung sprechen. Hanaskea…“ Sie nickte ihrer Tochter zu.

„Wir laden euch ein, gemeinsam bei uns zu essen. Ich habe zufällig viel zu viel Essen vorbereitet. Mama hatte die Idee, es wäre schön, wenn doch alle nach den Feierlichkeiten und Aufregungen noch zusammenkämen“, lud Hanaskea alle etwas umständlich ein.

„Wir rücken ein wenig zusammen, dann können wir diesen besonderen Tag gemeinsam festlich ausklingen lassen. Elieanor, weißt du, wo sich Druide Tanobakt, der Leibhaftige, jetzt aufhält? Es wäre netter, wenn er sich leibhaftig zu unserer Gesellschaft gesellt. Jaskula wird ihm sicher keine Standpauke mehr halten wegen der musikalischen Untermalung des Festes. Sie weiß ja nun Bescheid und Maistir Choi ist superglücklich. Galaktisch glücklich. Das ist doch das Wichtigste,“ lachte Aleyna. Aleyna war wie ein bunter Vogel mit Fransen an Pulli, Rock und Ärmeln. Die waren zwar unpraktisch, aber hübsch. Kein Wunder, dass sie Tanz unterrichtete. Und Kräuterkunde. Deswegen hatten sie ein Stück Land in ein Kräuterparadies verwandelt und freute sich, nun auch in der Nähe auf dem neuen Park-Garten-Gelände ihre Kräuterchen einbringen zu können.

Alle freuten sich auf den anschließenden gemeinsamen Schmaus.

„Es dauert nur zehn Minuten, dann ist Tanobakt, der Leibhaftige, wieder bei uns. So lange vertrete ich ihn, damit er nichts versäumt. Ihr wisst ja, Schwarmgedanken…“, meldete sich einer der Parallelkörper von Druide Tanobakt.

„Danke euch für die Einladung. Ich habe mir extra zwei Tage freigenommen von meinen Projekten. Als hätte ich eine Ahnung gehabt. Ich liebe Überraschungen! Hansakeas Essen ist in unserem Ort schon berühmt berüchtigt. Wir könnten tatsächlich vorher gemeinsam einen kleinen Schlenker zum neuen Park-Garten-Grundstück unternehmen, wie Maistir Choi es vorgeschlagen hat. Es befindet sich gleich hier um die Ecke, am Ende der Straße. Ich bin nämlich sehr neugierig“, lenkte Ushlaran die Aufmerksamkeit in sichere Gefilde, bevor es auch ihm an den Kragen ging. Er hatte letztendlich die Idee zu der Kombi: Stichwort – Musikeinspielung gehabt. Er wollte es schon immer mal einsetzen, aber als Erwachsener hatte man weniger Narrenfreiheit als ein Teenie, oder ein Druide. Ushlaran hatte nämlich Gimras Memo nachts vom Nachttisch stibitzt und mit Kyr und Rosuran zusammen programmiert. Kyr als Musiker hatte Gimras Stimme immer wieder heimlich aufgenommen und zusammengeschnitten. Rosuran hatte ein kleines Programm in ihr Memo eingeschleust. Das heute war erst der Anfang. „Give peace a chance“ war nicht das einzige Lied. Sie hatten gleich sämtliche Musikstücke über einen Zeitraum von 50 Jahren, von 1960 bis 2010, also vor der Zeit des großen Wandels, mittels Gimras Stimme übertragen. Jetzt war es nur eine Frage der Zeit und der richtigen Codewörter. Sie waren auf keinen bestimmten Zeitpunkt eingestellt. Das Programm konnte quasi selbst über den Zeitpunkt seines Einsatzes entscheiden. Mindestens sieben Puffertage hatten sie eingebaut, damit Gimra sich erholen konnte, und eine Laufzeit von längstens sieben Wochen.

Sie waren auch mächtig stolz, dass sie es ohne KI, rein auf Basis von Algorithmen haben programmieren können. Mit KI wäre es ein Bruch des Tabus und das war tabu. Tabu war unantastbar. Aber wenn kein Lebewesen zu Schaden kam, durfte man doch hin und wieder mal ein bisschen kreativ sein.

Auf dem Weg sprachen sie viel über Maistir Choi und lachten und staunten über sein Leben, in dem er so viel erlebt hatte. Maistir Choi hatte sich offensichtlich bei Kyr ausgeklinkt, denn es gab keine Kommentare mehr. Das war Kyr auch recht so. Daran musste er sich noch gewöhnen. Er fühlte sich zwar sehr geehrt, es war aber auch eine Bürde, weil man plötzlich eine zweite Stimme im Kopf hatte, die man nicht kontrollieren konnte. Jedenfalls konnte Kyr das noch nicht. Natürlich wusste das Maistir Choi und nahm sicher Rücksicht. Kyr hatte bisher erst die Elemente als geistige Berater durcherlebt und statt seinem Esel seit heute einen Hirsch an seiner Seite. Einen blauen Hirsch. Als Maistir Choi ihm seine Hand auf die Schulter gelegt hatte, kurz vor seinem Übergang, da hatte er gewusst, dass er ihn begleiten würde. In diesem Augenblick war für einen Atemzug ein blauer Hirsch vor ihm erschienen, der ewige Begleiter von Maistir Choi.

Als sie auf dem Grundstück ankamen, das Jaskula ihnen zeigen wollte, staunten alle. Es war schön geformt, leicht hügelig, mit einer kleinen Senke, in der Wasser stand, die zu einem kleinen Teich einlud. Ushlaran prüfte es sofort nach allen Regeln der Harmonie, damit alles seine perfekte Lage erhalten konnte. Einen Platz für Apfelbaum und Bank hatte Hanaskea rasch gefunden. Außerdem für Weinreben an einem Südhang. Aleyna erschnüffelte mit ihrer spitzen Nase die ersten Kräuterplätze. Alles andere durfte nach und nach im Zuge des Jahres gepflanzt werden. Bei den groben Linien, Ausrichtungen, Wegen waren sie sich rasch einig, denn die Landschaftsform gab vieles schon vor. Das Grundgerüst des Park-Gartens stand. Jaskula war glücklich.

„Wisst ihr noch, als wir einmal einen Ort für den Neubau eines Tempels im Süden prüfen sollten und Maistir Choi in den Brennnesseln gelandet war?“ Ushlaran lachte bei der Erinnerung.

„Oh ja, das war während unserer Vertiefungslehren. Du hattest als Aufgabe, einen Tempel im Osten zu planen und hattest nach einem passenden Grundstück gesucht. Wir sollten mit zur Prüfung. Dass du mitsolltest, war plausibel, Jaskula, wegen der Landschaftsgestaltung, aber wir beide? Burgon und ich hatten ganz andere Schwerpunkte. Nun, was Kräuter anging, konnte ich etwas sagen, aber über die Lage eines Tempels zu entscheiden, war schon spezifisch. Da konnten wir nur sagen, dass wir es schön fanden und die Energien sich gut anfühlten, ohne konkrete Aussagen. Doch dann hatten wir eine Katze gesehen…“, erzählte Aleyna mit glänzenden Augen.

„Ja, die mit diesem roten Fell, genau wie deine Haare. Ich hatte mich just in dem Moment in dich verliebt, als du diese Katze hochgenommen hast und sie zu schnurren anfing“, meinte Burgon und blickte Aleyna liebevoll an.

„Wegen einer Katze?“, sprachen Hanaskea und Rosuran zeitgleich.

„Sie war ein Zeichen“, meinte Burgon ernst. Nun, er hatte eine Ader zum Magischen. Ansonsten war er eher ein Zahlenmensch und unterrichtete dieses Gebiet auch am HdW. Zusätzlich zu Fauna, die Tierwelt.

„Ja, sie hatte blaue Augen. Sie würde die spätere Tempelkatze werden. Das war perfekt“, lachte Aleyna.

„Maistir Choi hatte das eingefädelt“, meldete sich Druide Tanobakt zu Wort.

„Was hat er eingefädelt?“, sprachen Aleyna und Burgon zeitgleich.

„Nun, es wurde Zeit, dass ihr euch näher kennenlernen würdet. Ihr wart im Unterricht so unaufmerksam, das war nicht zum Aushalten. Ihr wart beide zu schüchtern, den ersten Schritt zu unternehmen, also folgte das gemeinsame Projekt. Und… es hat funktioniert.“

„Der Katze sei Dank, sonst würde es uns heute nicht gegeben“, grinste Hanaskea.

„Haha, der Katze sei Dank, genau“, schmunzelte Tanobakt.

„Was? Ihr habt das abgesprochen? Ihr habt die Katze kurz vorher dort einfach ausgesetzt?“, meinte Kyr empört.

„Woher weißt du… ach, hat Maistir Choi wieder gepetzt? Ist egal. Es hat geklappt, nur darauf kommt es doch an“, grinste Druide Tanobakt.

„Da sind wir euch beiden sehr dankbar“, lachte Burgon.

„Maistir Choi war damals immerhin knapp 90“, überlegte Rosuran. Kyr-Choi meldete sich prompt:

„Ja, er war noch äußerst rüstig. Ab 100 begannen die Zipperlein. Dass er in den Graben mit den Brennnesseln gefallen war, lag eindeutig nicht an seinem Alter.“

„In einen Graben mit Brennnesseln, ohoh“, verzogen die drei Teens mitfühlend ihr Gesicht.

„Ja, jeder trollte so über das Gelände und schaute hier und da und plötzlich kam ein Hilferuf von Maistir Choi. Damals war er noch Druide. Keiner hatte mitbekommen, wohin er verschwunden war. Ein weiterer Ruf. Der klang verzweifelt und schmerzhaft. Aleyna, Jaskula, Burgon und ich rannten über Stock und Stein in die Richtung der Rufe, denn wir konnten ihn nirgends sehen. Da lag er, in einer kleinen Senke, mitten in einem Feld voller hoher Brennnesseln und hielt die Hände nach einer rettenden Hand ausgestreckt in die Luft. Ich bahnte mir einen Weg zu ihm und zog ihn aus den Nesseln heraus“, erzählte Ushlaran.

„Maistir Choi sagt, dass es ihn immer noch kribbelt, wenn er daran denkt. Auf dem neuen Grundstück seien auch zwei Brennnessel-Felder. Wir sollten bei der Begehung aufpassen“, erklärte Kyr-Choi.

Alle lachten.

„Es ist, als wäre er dabei“, meinte Rosuran.

„Er ist dabei“, meinten Kyr, Ushlaran, Tanobakt, Jaskula, Gimra, Aleyna, Elieanor und Burgon zeitgleich und hielten ihre Hände in die Luft zu einem unbestimmten Punkt.

„Oh ja, stimmt, Kyr-Choi. Das ist wahrhaftig galaktisch“, meinte Rosuran und alle lachten.

„Druide Choi stand da und rieb sich alle Arme und Beine und Hände. Er trug Shorts und T-Shirt, wie immer. Es war heiß. Er hatte gemeint: ‚Eben stand ich noch auf diesem Felsen und schaute mir die Gegend hier an und sah den Tempel schon förmlich vor mir. Im nächsten Moment lag ich mitten in diesen sich arg wehrenden Pflänzchen. Ich hatte nicht gesehen, dass es auf der anderen Seite des Felsens tiefer wurde, dass die Brennnesseln hier sehr hochgewachsen waren. Diese Nesselsorte war sehr selten bei uns und ausgerechnet in die musste ich reinfallen. Oh, es fühlt sich an, als wäre das Feuer an mir!‘ Er hatte so unglücklich ausgesehen. Auch sein halbes Gesicht, alles war stark gerötet gewesen. Aleyna war kurz zurückgerannt und hatte uns ein paar Schritte weiter zu sich gerufen. Sie hatte ein Schlammloch gefunden, etwas Schlamm aufgenommen und es in seinem Gesicht verteilt. Burgon hatte ihr geholfen und gemeinsam hatten sie den Schlamm auf allen geröteten Stellen verteilt.“

„Das war das zweite Zeichen für den guten Standpunkt eines Heiltempels. Beste Tonerde zur Heilung. Es hatte so gutgetan, egal, wie er aussah. Das meinte Maistir Choi gerade. Ich glaube, ich höre ihn kichern“, meinte Kyr-Choi.

„Nach einer kurzen Zeit schon konnte er sich sichtlich entspannen. Die Tonerde hatte gut geholfen“, meinte Ushlaran.

„Er meint, die Brennnesseln seien so geschockt gewesen, als sei der Himmel über sie gefallen, dass sie sich mit allen Härchen gewehrt hätten. Das täten sie sonst nie. Er kichert schon wieder“, kicherte Kyr-Choi.

„Es war eindeutig ein guter Ort für Heilung. Es wuchsen die richtigen Pflanzen, viele Heilpflanzen, es war unglaublich! Nicht nur die überaus kraftvollen Brennnesseln“, schwärmte Ushlaran.

„Ganz genau. Dann hatten Jaskula und ich die Schlamm-Mumie Druide Choi an der Hand genommen und vorsichtig aus dem Gefahrengebiet hinausbegleitet…“, wollte Aleyna beenden.

„Haha, er ist so lustig. Er meint, die Tonerde wäre doppelt gut gewesen, weil ihr dann nicht gesehen hättet, wie rot sein Gesicht gewesen war, als Aleyna und Jaskula ihn bei der Hand genommen hatten. Ihr kennt seine Schüchternheit, bis er 100 war“, lachte Kyr-Choi.

„Ja, und nun kennst du sie“, grinste Rosuran. Kyr grummelte.

„Das wäre uns gar nicht aufgefallen. Wir hatten uns wegen Jaskula arg zusammenreißen müssen. Sie hatte nämlich ausgesehen, als wäre sie selbst in das Schlammloch gefallen. Dabei hatten nur Aleyna und ich Choi behandelt. Du ziehst Erde einfach magisch an, egal wo du bist. Das ist zu witzig“, meinte Burgon und zwinkerte Jaskula zu. Natürlich hatte sie einen Streifen quer über die Stirn. Es sagte keiner mehr etwas. Es fiel nur auf, wenn sie keine Erde irgendwo hängen hatte. Dann wurde nachgefragt, ob denn alles in Ordnung wäre.

„Ihr seid einfach alle unmöglich“, lachte Jaskula.

 

Wie eine Meute Teenies gingen sie gemeinsam lachend und erzählend in Aleyna und Burgons Haus. Ein gemütliches Haus im Retro-Bauernstil, nur ohne Ecken und Kanten. Bis auf ein paar echte Holzmöbel war alles programmiert, gesät, gewachsen. Mit Holzzellen ließen sich starke Konstrukte bauen. Bei nahezu jedem Haus gab es ein knochenartiges Grundgerüst. Es waren quasi intelligente Knochen, die effektiv, leicht und stabil in die vorgegebenen Hausstrukturen wuchsen und sich durch eine hohe Widerstandsfähigkeit auszeichneten. Die Zwischenwände, Decken wurden durch eine Art Haut mit kleinsten Schuppen gebildet, die Außenhaut war meist ebenso schuppig, das Dachgewölbe meist haarig, fellig. Schuppen sowie Haare dienten der sensorischen Ausstattung des Hauses, die Klima und Licht sowie die eigene Versorgung regelten. Der KI-Einsatz umfasste jeweils genau reglementierte Aufgabengebiete. Alles war durchwoben von feinsten Adern, die alle Teile mit Wasser und Nährstoffen versorgten und gegebenenfalls auch die Depots in den Knochen mit Mineralstoffen und Spurenelementen auffüllten.

Ein Haus wurde gesät und musste während der Wachstumsphase mit nährstoffhaltigem Wasser gegossen und je nach Wetterlage berieselt werden. Die Instandhaltung eines Hauses bestand in der regelmäßigen Pflege mit Wasser und Nährstoffen. Wird das Haus nicht mehr gebraucht, kann es sich selbst überlassen werden. Es zerfällt nach und nach und wird zu Erde. Allein das Knochengerüst wird abgebaut, zerkleinert und wiederverwendet. Falls gebraucht, können auch Hauswände, Dach, Möbel von Labor-Kraken entsprechend aufbereitet und als Mineralstoffe, Spurenelemente, Nährstoffe oder Vitamine wieder einsetzbar gemacht werden.

Hanaskea war in ihrem Element und zauberte allen ein wohliges Schmatzen mit ihren neuesten Kreationen mit Kartoffeln. Das war gerade ihr Lieblingsthema. Es war ein ausgelassenes Beisammensein und sie sprachen viel über Maistir Choi und seine Besonderheiten.

„Es gefällt ihm, was wir über ihn sprechen. Ich merke gar nicht, wann er bei mir ist und wann nicht. Kann sein, dass er da ist, aber nichts sagt“, meinte Kyr-Choi mitten im Gespräch.

„Du bist jetzt seine Ohren und Augen“, meinte Hanaskea.

„Und sein Mund, sein Sprachrohr“, bemerkte Rosuran.

„Ja, das macht Sinn“, nickte Kyr-Choi. „Daran muss ich mich noch gewöhnen. Er sagt, er bliebe eine Weile bei mir, denn ich sei ein gutes Medium. Ich wisse, wie er tickt“, kicherte Kyr-Choi. Mindestens einer von beiden kicherte.

„Du wirst dich schnell gewöhnen, das kann ich dir aus Erfahrung berichten. Ich durfte als Medium die Weisheiten von Maistir Salana weitergeben. Aleyna hat es von Anfang an geschafft, das von sich zu trennen. Wahrscheinlich, weil du eh mit allem sprichst, Aleyna“, lachte Jaskula und wiegte ihren Kopf leicht hin und her. Das war ursprünglich Salanas Eigenart gewesen, die jedoch seit ihrer medialen Arbeit auf sie abgefärbt und auch ohne Salana geblieben war. So konnte es kommen.

Aleyna legte ihre Stirn in Falten und lächelte dabei. Gimra hob ihren Finger:

„Ganz genau. Das hat mich im HdW schon wahnsinnig gemacht. Bei mir muss alles logisch begründet sein. Wissenschaft eben. Inhaltsstoffe und Punkt. Und Aleyna traumwandelte nur so durch den Unterricht und bekam das alles raus, einfach nur, weil sie mit der Pflanze geredet hatte.“

„Ja, er erinnert sich sehr gern daran, wie Aleyna sich mit Maistir Choi im Schulgarten angeregt mit den Pflanzen unterhalten hatte. Deswegen hatte er während der Unterrichtsstunden immer gern beim Schulgarten vorbeigeschaut“, erzählte Kyr-Choi.

„Haha, stimmt. Das war sehr lustig. Die Pflanzen haben uns dann immer Witzchen erzählt“, erinnerte sich Aleyna und strahlte über das ganze Gesicht. „Pflanzenwitze, ihr wisst schon.“

„Pflanzenwitze…“, Gimra und Ushlaran klatschten sich beide an die Stirn, was bei Ushlaran wegen der Glatze recht laut klatschte.

„Ihr wisst doch, das sind die Gedankenfelder, die ich mir ansehe und da gibt ein Wort das andere. Nun tut doch nicht so, als sei ich sonderbar. Ihr wisst ganz genau, dass alles und jedes sein Gedankenfeld hat. Dazu nur eine kleine Prise Empathie als Schlüssel…“, erklärte sich Aleyna und malte eine Spirale mit der Hand.

„Ja, das Ding mit der Empathie. Ich kann mich in große Menschenmassen hineinversetzen, aber nicht in einzelne Individuen, weder Mensch noch Tier und erst recht in keine Pflanze oder Pilz. Ich schaffe es auch heute noch nicht, mich verschiedenen Gedankenfeldern zu öffnen. Es ist für mich einfach eine Mauer, die ich nicht durchdringen kann. Mein Kopf ist zu rational“, meinte Gimra ungewöhnlich aufrichtig.

„Deswegen bist du auch Rätin im Globalen Rat. Dein sachliches Denken bringt immer wieder gute Lösungen hervor und du lässt dich durch Emotionen nicht beeinflussen“, bemerkte Ushlaran.

„Mama, vielleicht bist du ja nicht echt. Vielleicht ja eine coole KI-Mama“, meinte Kyr-Choi, lachte und hob gleich die Hand entschuldigend hoch. „Die Idee stammt nicht von mir.“

„Dass du aus meinem Bauch geschlüpft bist, habe ich mir nicht erträumt, stimmt’s Ushlaran? Oder?“ Gimra klang fast zweifelnd. „Haha, Ushlaran, dir würde ich glatt zutrauen, dass du dir eine passende Frau gebaut hast, wenn wir uns all unsere genialen Natur-Häuser ansehen, deren Samen du programmiert hast. Ist heutzutage doch alles möglich. Wer weiß denn schon genau, wer von uns echt KI-Mensch oder echt Mensch ist. Ist es nicht so, dass allein die KI uns zu dem gestalten konnte, was wir heute sind? Der Mensch allein wäre ohne externe Hilfe jetzt ausgestorben“, lachte Burgon. Er hatte sich ein Shirt mit einem Adler drucken lassen. Dessen Kopf hatte, was seine eigene Nase und seinen Blick anging, etwas sehr Ähnliches. Dazu die streng zurückgekämmten und zu einem Zopf gebundenen dunklen Haare, in denen sich noch kein einziges graues Haar zeigte.

„Papa, nun sag doch mal was“, sagte Gimra und stupste Tanobakt an. Der war aber mal wieder ätherisch, also Parallelkörper. Er lachte und meinte:

„Das klingt plausibel. Es grenzt schon an ein Wunder, dass bei all euren Aufgaben plötzlich ein Kind entstanden sein soll. Zudem hat Ushlaran, mein geliebter Kahlkopf-Schwiegersohn, allein durch sein Aussehen auch etwas Galaktisches oder KI-haftes an sich“, lachte Tanobakt, der Dritte. Flupp und schon kam der echte Tanobakt zur Tür herein.

„Das sind lustige Themen. Da will ich live dabei sein.“

„Ihr seid doch unmöglich“, wehrte Gimra ab.

„Haha, stimmt. Ihr beiden passt perfekt zusammen, Mama und Papa. Stimmt, bei so vielen Projekten, die ihr beide habt, habe ich mich auch schon immer gefragt, wie ich da zustanden gekommen war“, lachte Kyr-Choi. Man konnte ihm eine leichte Verwirrung ansehen. Da klinkte sich Jaskula mit ein:

„Maistir Choi. Wenn du mich hörst, dann kannst du doch solch einen Unfug nicht über dein Medium verbreiten, das der Sohn der beiden ist. Das geht nun wirklich zu weit, auch, wenn ich zugeben muss, dass es wirklich plausibel klingt.“ Jetzt lachte auch Jaskula herzerfrischend. Kyr von Kyr-Choi war noch verwirrter. Gimra blickte Ushlaran ernst an.

„Nein, vollkommener Nonsens. Du weißt doch noch genau, wo Kyr entstanden ist, als wir…“, wollte Ushlaran sich erklären.

„Alles gut, Papa, alles gut. So genau wollte ich es auch nicht wissen. Das beruhigt mich schon… alles gut. Ist mir ganz egal“, wehrte Kyr ab. Auch Hanaskea und Rosuran machten große Augen. Man konnte ihnen die ablaufenden Kopfkinos ansehen.

„Er sagt, ich sehe keinem von euch wirklich ähnlich. Nicht einmal Nane Tanobakt sehe ich ähnlich. Wenn du Mama als perfekte Frau, die zu dir passt, programmiert und gebaut hast, dann hast du bestimmt auch deinen perfekt passenden Sohn programmiert, der all das kann, was ihr nicht könnt. Oder zumindest die Fähigkeiten besitzt“, spann Kyr-Choi die Idee doch weiter.

Ushlaran klatschte sich wieder an seinen platten Kopf:

„Was sind das für Ideen, Maistir Choi? Du machst den Jungen ganz kirre. Und Nane hatte früher hellblonde Haare, so wie du, nur eben glatt. Und du hast die welligen Haare deiner Mutter, nur lockiger. Und du hast den schlausten Verstand von uns allen.“

„Und woher kommt wohl dieser schlaue Verstand?“, wand Kyr-Choi ein.

Aleyna half:

„Kyr, deine Eltern sind und bleiben unsere besten Menschen-freunde. Genauso wie Jaskula und Elieanor und Tanobakt, der Leibhaftige.“

„Ja, ich weiß. Das hat er mir auch gesagt. Aber theoretisch…“

„Tabu“, sagten jetzt nahezu alle Erwachsenen gleichzeitig, so dass Kyr-Choi die Hände hochhielt:

„Ist ja gut. Das Tabu setzt die Grenzen. Ich weiß. Außerdem sind wir noch nicht so weit, dass wir einen ganzen Körper nachbauen können, außer einzelnen Organen, Gewebe, Knochen im Falle einer Krankheit oder eines Unfalls. Okay, Körperteile können nachwachsen. Und wenn die KI uns weiter unterstützt…“

„Tabu!“

„Wenn wir gerade beim Tabu sind, können wir ja auch gleich mit den Rückreisen beginnen und feierlich unser Tabu aufheben, das es uns dreien bis heute verboten hat, auf alte Leben zurückzuschauen“, meinte Kyr-Choi, eindeutig Choi.

Jaskula stellte sich jetzt vor Kyr und meinte:

„Lieber Maistir Choi. Es ist hier auf der Erde dunkel draußen. Es ist jetzt Abend. Da wegen der Feierwoche anlässlich des 100-jährigen Weltfriedens kein Unterricht stattfindet, habe ich über mein Memo einen angemessen großen Raum im HdW gebucht. Für morgen früh, aber nicht jetzt sofort. Wer ist dabei außer Kyr, Hanaskea und Rosuran? Können die Eltern auch? Elieanor und Druide Tanobakt, wie sieht es bei euch aus?“

Kyr-Choi nickte und meinte:

„Du hast ja recht, wir hatten das vorher so abgesprochen. Ich dachte nur, ich sei zu spät. Dieses Zeitgefühl… Ansonsten ist alles gut hier. Allein das Zeitgefühl ist dubios, entschuldigt.“ Er kicherte.

„Haha, Zeitgefühl hattest du doch noch nie wirklich“, meinte Jaskula plötzlich in einer gänzlich anderen Stimme, also Jaskula-Salana. Sie sah Kyr-Choi an, aber auch irgendwie durch ihn hindurch. Sie kannten es. Das war bei Medien manchmal so. Jaskula würde sich danach wahrscheinlich nicht an das Gesagte erinnern.

Was die Kommunikation mit geistigen Beratern anging, gab es folgende Unterschiede: volles Medium, ohne Erinnerungen, wie eben Jaskula mit Salana, paralleles Medium, quasi eigene Stimme und andere Stimme parallel, wie jetzt bei Kyr-Choi, oder eben einfach ein geistiger Berater, dessen Gedanken man wahrnehmen konnte. Aleyna war Meisterin darin, aber lernen konnten es alle. Bis auf Gimra, die es mittlerweile aufgegeben hatte. Kyr-Choi lachte und meinte:

„Wie schön, dass du auch mit von der Partie bist. Allerdings besser nicht über volles Medium Jaskula, denn sie verpasst ansonsten die Holofilm-Rückreise“, meinte Kyr-Choi. Ein bisschen schräg fanden sie es schon, wenn zwei geistige Berater einen Smalltalk über Menschen hielten. Das kam tatsächlich selten vor.

„Ja, natürlich, geliebter Maistir Choi. Ich bleibe bei Jaskula als paralleles Medium. Ich wollte euch nur einmal wieder alle so beisammen sehen, bevor wir uns die Zeitfenster anschauen. Gut, schaut ihr aus. Durch Augen sehen zu können ist schon etwas anderes, ein Geschenk. Immerhin kann man als geistiger Berater die Energien deutlich feiner erkennen und unterscheiden. Hat alles seine Vorteile und es ist gut so, wie es ist. Kyr, du machst das sehr souverän für deinen ersten Tag als paralleles Medium. Wir waren alle über die lange Zeit immer irgendwie verbunden, deswegen klinke ich mich sehr gern mit ein. Und freue mich auf morgen früh. Ich werde versuchen, mit dir gemeinsam, Choi, pünktlich zu sein. Ich muss dich wohl noch bei der Hand nehmen in Punkto Zeit, bist ja noch ein kleines Fohlen in der geistigen Welt.“ Jaskula kicherte und schüttelte sich dann kurz. Alle starrten sie noch an.

„Was ist los, warum schaut ihr mich so an?“

„Ach ich hatte nur einen kleinen Smalltalk mit Salana von Mensch zu Mensch“, kicherte Kyr-Choi mit einer ganz verliebten Stimme. Es war unglaublich, dass ihre Liebe einfach nicht nur auf der Erde etwas Besonderes war, sondern offensichtlich auch in der geistigen Welt, raum- und zeitlos.

„Wie romantisch“, meinte Aleyna entzückt. „Ihr zwei. Jetzt ist eure Liebe wahrlich galaktisch.“

Alle stimmten gerührt zu. Da meldete sich Kyr-Choi wieder zu Wort:

„Nun gut. Zeit will eben gelernt sein. Raum geht schon. Also auf zu den Zeitreisen. Irgendwas findet jeder immer, was es zu lernen gibt. Maistir Choi hatte vorgeschlagen, durch die Zeitfenster etwa einen Tag in einer alten Kultur das alte Leben anzuschauen. In jedem Fall sei es gut, uns Kinder bei der Erinnerungsreise zu begleiten, damit ihr alle wisst, was wir gesehen haben und, wenn nötig, darüber sprechen können. Keiner bliebe dabei unbeeindruckt, wenn er ein früheres Leben zu Gesicht bekommt. Es ist zwar hauptsächlich für uns Tiro, aber auch Aleyna, Burgon, Gimra und Ushlaran haben hier und da noch etwas aufzuarbeiten. Danke Jaskula, dass du moderierst. Wir hatten die Abfolgen besprochen. Wir treffen uns morgen, wann immer das von hier aus ist. Naja, Salana-Liebes ist ja in der Nähe“, kicherte Kyr-Choi. Kyr hob seine Hand und bemerkte:

„Jetzt ist er weg. Also das ist schon anstrengend, aber cool.“

Jaskula übernahm:

„Danke Kyr. Das machst du sehr gut und entspannt. Wenn es dir einmal zu viel wird, sag einfach Bescheid, in Gedanken. Maistir Choi wird sofort Rücksicht nehmen.“

„Wohin reisen wir morgen als erstes?“, wollte Hanaskea wissen.

„Wir beginnen morgen in Mesopotamien am Fluss Euphrat, circa 2270 v.u.Z.. Ihr dürft gespannt sein.“ Jaskula schien sich richtig darauf zu freuen.

Elieanor zwinkerte Tanobakt zu, dass er hüstelte und sagte:

„Ja, ja, natürlich sind wir dabei. Wir müssen doch auf unsere Kinder und Kindeskinder aufpassen.“

„Außerdem lieben wir jedes gesellschaftliche Ereignis und Zeitreisen sind etwas sehr Besonderes“, freute sich Elieanor sichtlich.

„Toll, Nana, dass du dabei bist“, freuten sich Hanaskea und Rosuran und umarmten sie. Die kleine humor- und temperamentvolle Frau lachte laut. Sie hatte dunkle Haut bei zwei Uhr und trug ein leuchtendblaues Stirnband über ihren grauen krausen Haaren, um diese etwas zu bändigen. Rosuran hatte eindeutig etwas von ihren Genen mitbekommen. Zwar war die Haut etwas heller bei circa sieben Uhr, aber die Haare waren schwarz und krausgewellt. Die Erkenntnis beruhigte ihn etwas, denn sein Vater Burgon hatte schwarze, glatte Haare und eine leichte Hakennase, eher wie die von Druide Tanobakt. Die Haare seiner Mutter waren rot, vielleicht bekam er mal einen roten Bart. Hanaskea hatte eindeutig die schwarzen Haare von ihrem Vater Burgon geerbt. Natürlich dachten alle drei Teens darüber nach, ob Ushlaran sie vielleicht gebaut und designt hatte. Oder eine seiner Biotechnik-Kolleginnen oder Gen-Design-Kollegen. Vielleicht war Ushlaran bereits ein KI-Proto-Typ. Trotz Tabu…

Elieanor war etwas jünger als Tanobakt und eigentlich auch Druide, doch irgendetwas hielt sie immer noch davon ab, den Titel anzunehmen, der ihr schon längst zustand. Sie meinte beharrlich, sie sei noch nicht so weit.

 

Sie trafen sich am nächsten Morgen wie mit Maistir Choi verabredet in einem wabenförmigen großen lichtdurchfluteten Raum des HdW.

Der riesige Komplex des HdW bestand aus vielen Wabenkonstruktionen in unterschiedlichsten Größen und Farben, zumeist honiggelb. Letztendlich hatten die meisten neu gesäten Häuser einen wabenartigen Aufbau. Waben waren sehr stabil und vielseitig einsetzbar. Ergänzt wurden diese durch Zellenformationen, ähnlich den Pflanzenzellen. Sie sagten nicht, sie wohnten in Wabe sieben, sondern behielten Haus als Begriff bei. Nostalgische Moden, Retro, waren sehr beliebt. Es gab in den Städten und ein paar Dörfern und Siedlungen natürlich noch einige traditionelle Häuser. Doch wurden auch diese nach und nach durch die neue Biotechnologie ersetzt. Sie übertraf alle Erwartungen an eine effiziente, ressourcenschonende und nachhaltige Bauweise. Durch den Einsatz von Photosynthese in der Energiegewinnung konnte diese neue Bauweise sogar bei der Reduktion der CO2-Emmissionen helfen. Es gab Hybrid-Lösungen, die vorhandene Steine, Mauern mit in die Programmierung eines neuen Hauses einbezog. Diese wurden quasi umwachsen und fehlende tragende Teile wurden durch Knochenkonstruktionen ergänzt. Viele Häuser konnten schon seit der Jahrhundertwende auf diese Weise upgecycelt werden.

Von außen waren so manche Häuser nicht zu erkennen. Nur geschulte Augen wussten, dass sich unter diesem Hügel, Baum, Büschen, Felsen, ein Haus befand. Sie konnten aber jegliche anderen Farben oder Bilder in ihrer Außenhaut abbilden. Türen und Fenster öffneten sich wie Lider von Augen via Kontaktpunkt oder Sprache.

Die einzelnen Häuser des HdW waren gut zu erkennen. Sie waren nicht getarnt. Vor kurzem hatten Gen-Designer-Tiro als Abschlussarbeit die Gestaltung der Außenhaut der einzelnen Gebäude des HdW bekommen. Teamarbeit war gefragt. In Folge war es zu großen Verwirrungen gekommen. Sie hatten täglich neue Bilder, sogar kleine Filme oder Live-Übertragungen anderer Orte auf der Außenhaut projiziert, so dass das komplette Areal jeden Tag völlig anders aussah und jeder seine Häuser und Räume erneut suchen musste. Alle waren froh gewesen, als sie ihre Abschlussarbeit beendet hatten und wieder Normalität einkehren konnte. Es konnte dennoch immer mal sein, dass aufgrund einer Themenwoche ein Haus ein passendes Bild oder Film angezogen bekam, aber nie das komplette Areal.

Es trafen nun alle wie verabredet in dem lichtdurchfluteten sechseckigen Raum ein. Die Stühle waren in einem großen Halbkreis um eine freie Mitte angeordnet. Auf kleinen Tischen standen Getränke, Nussmischungen und Obst. Das Raumklima war sehr angenehm und wurde durch Sensoren geregelt, ebenso das Licht, wenn es draußen dunkler wurde oder drinnen abgedunkelt werden sollte, wie jetzt gleich.

Alle Erwachsenen hatten sich freigenommen. Das hatten sie schon vorab mit Maistir Choi besprochen. Allein die Teens hatten von den Rückreisen erst gestern erfahren. Alle waren sehr aufgeregt, jung, mittel und alt. Selbst Druide Tanobakt, der Leibhaftige, ließ es sich nicht nehmen, höchstpersönlich anwesend zu sein. Ehrensache.

Auch die beiden Maistir Salana und Choi hatten sich über ihre Medien gemeldet. Es konnte losgehen.

Jaskula begrüßte sie:

„Wir freuen uns, dass diese Gruppe von zwölf Menschen, ob körperlich oder geistig, hier heute zusammengekommen ist, um unsere drei Tiro Hanaskea, Kyr und Rosuran auf ihrer ersten Rückreise von insgesamt zwölf Rückreisen zu begleiten.

Auch für uns wird die eine oder andere Rückreise neu sein, denn aufgrund unserer Gruppe wurden genau zwölf Tage mit Rückblicken und Vorausschauen herausgefiltert, die uns alle zwölf verbinden. Zeitfenster, in denen wir uns alle irgendwie begegnet waren. Mal als Junge, mal als Mädchen, mal als Frau, als Mann, in unterschiedlichen Altersstufen, wurden wir wiedergeboren. In jeder Zeit ein neues Leben, eine neue Identität. Jede Kultur, darunter einige alte Hochkulturen, führte ihr eigenes Leben mit eigenen Riten in Religion, Gesellschaft und Politik. Und sprach ihre eigene Sprache, welches ihr in den Holo-Übertragungen merken werdet.

Die erste Zusammenkunft von uns allen Zwölfen ergab sich hier auf der Erde in Mesopotamien, was Zweistromland bedeutet, da es das Land zwischen Euphrat und Tigris war. In der Stadt Ur, am Fluss Euphrat circa 2279 v.u.Z. in der Zeit von Encheduanna, Tochter des Großkönigs Sargon von Akkad, unter der Herrschaft von Naram-Sin, seinem Enkel.“

Jaskula sah die Teens freundlich an:

„Lasst euch überraschen über die Leben, in denen ihr euch wiederfinden werdet. Es gibt keine Pausen. In Ausnahmefällen stoppen wir die Übertragung. Aber es ist gut, sich darauf einzulassen und das bereits Erlebte in Erinnerung zu rufen, egal wie schwierig eure Rolle gewesen war, die ihr in der jeweiligen Kultur gespielt hattet. Jeder trägt sein Paket an Erfahrungen und Erinnerungen mit sich. Ziel ist es, dass dieses Paket durch das Verständnis immer leichter wird und zu eurem eigenen Gedankenfeld wird, das frei von Bewertung und Emotionen ist. Ihr werdet euch selbst danach besser verstehen, annehmen und lieben lernen. Auch untereinander. Bedenkt stets, es ist bereits geschehen, vor sehr langer Zeit. Es ist ein Teil eurer eigenen Geschichte.

Und jetzt ist alles gut, sehr gut.

Wollen wir starten?“

Alle stimmten eifrig zu. Die Spannung war kaum zum Aushalten. Jaskula lächelte und sagte bestimmt:

„Das erste Zeitfenster öffnet sich.“

Der Raum verdunkelte sich.

Die Gestalt einer Frau formte sich vor ihren Augen. Sie hatte Ähnlichkeit mit Kyr. Ein Tempel. Es roch nach Myrrhe und Zedernholz. Sie räucherte andächtig.

 

 

Erstes Zeitfenster . Das Geheimnis

 

Der Sprecher begann:

„Aus einer großen Schale stieg der aromatisch duftende Rauch einer Morgenräucherung mit Myrrhe und Zedernholz auf und umhüllte den Vorplatz der prächtigen dreistufigen Tempelanlage. In den Räucherungen sah die Bevölkerung von Ur ein Zeichen der Erleichterung, ein Zeichen dafür, dass in ihre Stadt wieder Normalität einkehren durfte. Die erhabene Hohepriesterin Encheduanna-Kyr war wieder zurück in ihrem Tempel, dem Sitz des Stadt- und Mondgottes Nanna, im Norden der Stadt Ur, am großen Fluss Euphrat gelegen, nahe zum großen Meer.

Über ein halbes Jahr war sie im Exil gewesen, wegen eines aufständischen Herrschers, des rebellischen Statthalters von Ur, Ushlaran-Lugal-Ane.

Draußen, weit vor die Stadt in die Wüste war sie vertrieben worden, enthoben ihres hohen Amtes. Dort, bei den Aussätzigen, hatte sie vegetiert, krank, dem Tode nahe. Er hatte sie gegen ihren Willen genommen, sie, Encheduanna-Kyr, die Gemahlin des Mondgottes Nanna, sie, die Entu-Priesterin, die Hohepriesterin, die das höchste religiöse Amt der Stadt innehatte, im Egipar von Ur. Das Egipar war das Heiligtum von Ningal, der Großen Göttin und Gemahlin des Mondgottes Nanna. Dieser Tempel war der Großen Göttin selbst geweiht. Daher wurde sie, Encheduanna-Kyr, mit der Großen Göttin selbst identifiziert.

Nie hatte sie diese Schreckensszenarien vergessen, doch nie wollte sie je über ihre tiefsten Verletzungen sprechen.

Sie hatte sie in ihr tiefstes Inneres verschlossen, die Schreie, die plötzlich überall zu hören gewesen waren und das drohende Unheil angekündigt hatten, das wie Donner und Blitz mit roher Gewalt über sie hergefallen war, ohne die geringste Chance eines Auswegs, der Flucht. Wie er plötzlich vor ihr gestanden hatte, sie geschlagen, sie festgehalten, nach unten gedrückt, sich den Weg in sie verschafft und den erbärmlichen Saft in sie ergossen hatte. Wie er sich mit einem zufriedenen Lächeln in seinem kahl geschorenen Kopf, was eigentlich nur Priestern vorbehalten gewesen war, aufgerichtet und mit der Axt zum Schlag ausgeholt hatte.

Da, in diesem Moment, hatten sich ihre hasserfüllten Augen getroffen. Da, plötzlich, hatte er gesehen, dass an ihr irgendetwas war, irgendetwas war an ihr gewesen. Er hatte in ihre tiefblauen Augen gestarrt und war innerlich zusammengezuckt; ein kurzes Aufblitzen von Reue, ein Erkennen und nicht zuordnen Können, kurze Panik. Unerwartet hatte er sich abgewandt und war gegangen. ‚Zu den Aussätzigen!‘, hatte er kurz vor der Tür noch gerufen und war verschwunden.

...

 

 

 

 

 

 

 

 



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